Auf einen Blick
Der Volkswagen-Konzern, der mit Modellen wie dem Käfer und dem Golf die Herzen eroberte, kämpft ums Überleben. Er muss mindestens drei der zehn Werke schliessen. Zehntausende von Arbeitsplätzen sind gefährdet.
Was in Deutschland im Moment wirtschaftlich und politisch abgeht, ist für das einstige Wirtschaftswunderland eine Blamage. Für uns beängstigend: Die Misere macht an der Grenze nicht Halt. Experten spüren schon jetzt, wie sich das Beben auf die Schweiz auswirkt. Allerdings hat die Schweiz einen entscheidenden Vorteil.
Am Mittwoch präsentierte VW die neusten Zahlen: Der Konzerngewinn brach gegenüber dem Vor-Quartal um 64 Prozent ein. Personalvorstand Gunnar Kilian (49) rechtfertigte den harten Sparkurs mit: «Fakt ist: Die Lage ist ernst.» Wenn nicht gehandelt wird, wirds für das Unternehmen mit rund 300'000 Angestellten allein in Deutschland brenzlig.
Bis 200'000 Entlassungen?
Volkswagen ist nicht der einzige Konzern, der angeschlagen in den Seilen hängt. Auch Chemiefirmen und Stahlhersteller haben dramatische Sparmassnahmen beschlossen. So will sich BASF aufs Kerngeschäft konzentrieren, indem das Unternehmen Geschäftsteile verkauft und Chemieanlagen schliesst. Bei Thyssenkrupp wird es durch eine Restrukturierung zu Entlassungen und Leistungskürzungen für Angestellte kommen.
Stefan Bratzel (57) vom Forschungsinstitut Center of Automotive Management rechnet in den nächsten Jahren mit mindestens 200’000 Jobs, die in der Hersteller- und Zuliefererindustrie verloren gehen. Gewerkschaften drohen mit Streiks.
Zu allem Elend in der Wirtschaft kommt eine Regierung, die sich wegen ihrer inneren Zerrissenheit und fehlenden internen Kommunikation selber lähmt. Ein Beispiel: Um der Wirtschaft zu helfen, hat sich Kanzler Olaf Scholz (66, SPD) am Dienstag mit Verbänden getroffen. Weil Finanzminister Christian Lindner (45, FDP) darüber vorab nicht informiert worden war, organisierte er kurzerhand einen eigenen Wirtschaftsgipfel.
Ob diese Regierung bis zu den Wahlen vom 28. September 2025 durchhält, ist alles andere als sicher.
Hier hat Deutschland Fehler gemacht
Alexander Marguier (55), Chefredaktor des deutschen Politmagazins «Cicero», bezeichnet Deutschland gegenüber Blick als «den kranken Mann Europas». In Schieflage bringen Deutschland unter anderem die hohen Energiekosten, die Bürokratie, der Fachkräftemangel und die hohen Steuern. Marguier sagt gegenüber Blick: «Es ist eine problematische Mixtur vor geopolitisch schwierigem Hintergrund.»
Laut Marguier hat Deutschland in den vergangenen Jahren genau das Gegenteil gemacht von dem, was es hätte tun müssen. «Es begann mit dem Atomausstieg, es folgte die Migration, und schliesslich wollte die Regierung mit dem Bürgergeld faktisch den Sozialstaat alter Prägung wieder aufleben lassen. Die deutsche Politik hat sich übernommen und sich einem Machbarkeitswahn hingegeben, der jetzt von der bitteren Realität widerlegt wird.»
Wie Deutschland aus der Misere heraus kommt? «Im Moment gar nicht, wir sind politisch blockiert», meint Marguier. Das werde sich in den Wahlen auswirken: Bei den Bundestagswahlen im Herbst 2025 erwartet er einen weiteren Zuwachs der extremen Parteien wie der AfD und des Bündnis Sahra Wagenknecht. Marguier: «Da gibt eins das andere, was nichts Gutes erwarten lässt.»
So gefährdet ist die Schweiz
Ökonomen sind davon überzeugt, dass der «kranke Mann Europas» auch die Schweiz anstecken wird – oder bereits angesteckt hat. Alberto Silini (50), Europaexperte bei Switzerland Global Enterprise, sagt: «Betroffen sind vor allem die direkten und indirekten Zulieferer der Autobranche.» Bereits seit Anfang Jahr stelle man einen Bestellrückgang aus Deutschland fest – und zwar nicht nur in der klassischen Benziner-Technologie, sondern auch in der Elektrosparte.
Das deutsche Beben werde die Schweiz nur bedingt treffen, meint hingegen Jan-Egbert Sturm (55), Direktor der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF). Ob in der Finanzkrise 2008 oder bei der Abkoppelung des Frankens vom Euro 2015: Die Schweizer Industrie habe dank Nischenprodukten, Innovationskraft und Flexibilität immer wieder Krisen gemeistert. «Wenn es darauf ankam, hat die Schweiz gezeigt, dass sie ihre Prozesse und Partner schnell anpassen kann», so Sturm.
Alexander Marguier sieht vor allem einen grossen politischen Vorteil, den die Schweiz gegenüber Deutschland aufweist und der das Land auch wirtschaftlich stabilisiert. Marguier: «In der konsensorientierten Schweizer Politik sind stets irgendwelche Koalitionen am Werk. Sie scheint – anders als in Deutschland – mehr das Wohl des Landes im Blick zu haben als das Wohl der Parteien.»