Proteste, Streiks, Extremismus – «Cicero»-Chefredaktor Alexander Marguier (54) warnt
«Deutschland durchlebt eine tiefe Krise»

Deutschland wird zurzeit durchgeschüttelt. Wie kommt der wichtigste Partner der Schweiz wieder aus der Misere heraus? Ein Experte und eine Expertin ordnen ein und schlagen vor.
Publiziert: 08.01.2024 um 17:06 Uhr
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Aktualisiert: 08.01.2024 um 17:11 Uhr
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Mit Blockaden an Autobahnauffahrten und Traktorkolonnen in Städten wie hier in Hamburg protestieren seit Montag die Bauern in Deutschland gegen die von der Regierung geplanten Sparmassnahmen.
Foto: imago/xim.gs
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Guido FelderAusland-Redaktor

Das stärkste Land Europas steht fast still. Am Montag traten in Deutschland bundesweit Bauern und Spediteure in den Streik und legten den Verkehr an vielen Orten lahm. Von Mittwoch bis Freitag werden auch die Lokführer die Arbeit verweigern, was laut der Deutschen Bahn «massive Auswirkungen» haben wird.

Auf politischer Ebene herrscht Unruhe. Die Ampelregierung unter Kanzler Olaf Scholz (65) mit SPD, Grünen und FDP wankt bedenklich. Aus dieser Zerrissenheit heraus werden zurzeit gerade zwei neue Parteien gegründet: das Bündnis Sahra Wagenknecht sowie die Werteunion des ehemaligen Verfassungsschutzchefs Hans-Georg Maassen (61). «Cicero»-Chefredaktor Alexander Marguier (54) warnt: Die Deutschland-Krise hat ein historisches Ausmass angenommen.

Neue Parteien bringen Instabilität

Die neuen Gruppierungen dürften die politischen Kräfteverhältnisse weiter aufsplitten und somit die politische Lage destabilisieren. Nach einer ersten Analyse der CDU liegt das Potenzial von Wagenknechts Partei durchaus bei zehn Prozent.

Weil sie Positionen von links bis rechts vereint – Begrenzung der Migration, Nein zu Wokeness, weitere Nutzung von billigem Gas und Öl, Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Energiesanktionen gegen Russland – dürfte die ehemalige Linken-Vize Sahra Wagenknecht (54) Wähler von allen grossen Parteien inklusive AfD in ihre Reihen locken.

Vor allem vom Kuchen der konservativen CDU-Wähler sowie der AfD dürfte sich Hans-Georg Maassen ein Stück abschneiden können. Experten schätzen seinen Erfolg jedoch als eher gering ein, weil das Potenzial in diesem Bereich abgedeckt ist. Maassens Gruppierung sagt man einen Stimmenanteil von maximal zwei Prozent voraus und spricht von einem vorübergehenden Phänomen.

Deutschland hat aber auch mit Extremismus zu kämpfen. In Essen forderten im Herbst Islamisten die Ausrufung eines Kalifats. Neonazis brüllen ihre Parolen immer lauter, während Linksextreme ebenfalls immer brutaler werden und ihren Gegnern sogar mit Hämmern Schädel und Sprunggelenke einschlagen.

Viele stehen hinter den Bauern

Die Lagebeurteilung von Alexander Marguier, Chefredaktor des deutschen Politikmagazins «Cicero», zu Deutschland ist fatal. Gegenüber Blick sagt er: «Es besteht kein Zweifel darüber, dass Deutschland im Moment eine tiefe gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krise durchlebt.»

Die Bauernproteste stünden nicht nur für eine bestimmte Berufsgruppe, sondern für breitere Bevölkerungsschichten. Die Unzufriedenheit über die Ampelregierung, deren drei Koalitionsparteien inhaltlich nicht zusammenpassten, sei gross. An der Spitze stehe ein Kanzler, der keine Führungsqualitäten zeige und die Bürgerinnen und Bürger darüber im Ungewissen lasse, wohin er das Land steuern wolle.

Verschärfte Debattenkultur

Die Schweizerin Hanna Schwander (41), Professorin für politische Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, betrachtet vor allem die Art der politischen Debatte als ein Hauptproblem. «Die verschärfte Debattenkultur kann sich auf die Realpolitik auswirken, wie man bei den Bauernprotesten und dem Angriff auf Vizekanzler Robert Habeck gesehen hat. Das ist beunruhigend.»

Zum Thema «Krise» allerdings meint sie, dass es sich eher um «das Gefühl einer Krise» handle. «Die Regierung streitet zwar oft und macht in der Kür eine schlechte Figur, aber sie arbeitet dennoch nicht wenig erfolgreich.» Vieles funktioniere noch sehr gut, nur werde das zu wenig wahrgenommen. «Sie hat zum Beispiel auf Anfang Jahr das Bürgergeld und das Kindergeld für Geringverdienende massiv erhöht und das Heizungsgesetz in Kraft gesetzt», sagt Hanna Schwander.

Eine «gefährliche Mischung»

Die vielen beschlossenen Aufgaben reissen allerdings ein Milliardenloch in die Haushaltskasse. Um das Steuer auf Erfolgskurs zu drehen, fordert Alexander Marguier eine wachstumsorientierte Politik sowie Diskussionen über überbordende Sozialtransfers. «Die Leute verstehen es nicht, wenn man bei Bauern spart und gleichzeitig Millionen in Entwicklungsprojekte wie den Bau von Radwegen in Peru investiert.»

Innenpolitische Spannungen sowie Kriege in der Ukraine und in Nahost: Marguier spricht von einer «gefährlichen Mischung», die Deutschland lähme. Marguier: «Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der so viele Krisen auftraten und gleichzeitig die Regierung dermassen schwach war.»

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