Misswirtschaft, Streiks, Hass auf Politiker – eine Analyse zur Misere in Deutschland
Der grosse Kanton geht k.o.

Eine grosse Nation verkümmert. Aus dem einst stolzen Deutschland ist ein Land geworden, das zerstrittene Politiker immer tiefer ins Elend reiten. Blick zeigt, wo Fehler gemacht werden und wie das Land – vielleicht – die Wende schaffen könnte.
Publiziert: 08.05.2024 um 18:38 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2024 um 09:41 Uhr
SPD-Politiker Matthias Ecke erlitt beim Angriff einen Bruch des Jochbeins und der Augenhöhle.
Foto: x
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Guido FelderAusland-Redaktor

Die Zeit, in der Deutschland der Wirtschaftsmotor und der politische Taktgeber Europas war, ist vorbei. Ja selbst die Bezeichnung «unser grosser Kanton» ist nicht mehr angebracht, um ihn für unser nördliches Nachbarland zu verwenden. Deutschland ist in den vergangenen Monaten tief gefallen.

Probleme gibt es viele. Die drei grössten sind folgende:

Zerstrittene Regierung

Praktisch erfolglos kämpft FDP-Finanzminister Christian Lindner (45) gegen die Geldverschwendung seiner Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen in der Regierung an. Kindergrundsicherung, Bürgergeld und Renten gehören zu den grossen Streitpunkten. Die staatlichen Ausgaben fliessen in Strömen, gleichzeitig befindet sich die Wirtschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt von minus 0,3 Prozent im vergangenen Jahr auf Talfahrt. Nur gerade 19 Prozent der Deutschen sind mit der Regierung noch zufrieden.

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Für viele Deutsche ist ihre Regierung eine Lachnummer (v.l.): Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Finanzminister Chrstian Lindner (FDP).
Foto: AFP

Der Wirtschaftspsychologe Florian Becker kritisierte in einem Gastbeitrag im Nachrichtenmagazin «Focus», dass es sich Millionen Menschen im Bürgergeld bequem machten und nicht arbeiteten, obwohl sie es könnten. Für ihn setzt die Unterstützung falsche Anreize. Er folgert: «Unser Sozialstaat ist wie eine Mutter, die ihrem erwachsenen Sohn das Bett macht.»

Steigende Gewaltbereitschaft

Die Wut auf «die in Berlin» sowie auf lokale Entscheidungsträger steigt massiv. Auf immer aggressivere Art und Weise verschaffen sich einige Deutsche Luft. Gleich mehrmals sind in den vergangenen Wochen Politikerinnen und Politiker angegriffen und verletzt worden. Der sächsische Spitzenkandidat der SPD für die Europawahl, Matthias Ecke (41), wurde am 3. Mai beim Aufhängen von Wahlplakaten von Jugendlichen spitalreif geprügelt, offenbar haben zumindest einige der Täter einen rechtsextremen Hintergrund. Am Dienstag attackierte ein psychisch gestörter Mann die SPD-Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (46) hinterrücks mit einem Beutel mit hartem Inhalt.

Drohungen und Sachbeschädigungen gehören inzwischen zur Tagesordnung. Die Innenminister der Bundesländer überlegen, ob Übergriffe auf Politiker härter bestraft werden sollen. Extreme Parteien wie die AfD und neue wie das Bündnis Sahra Wagenknecht (54) verzeichnen grossen Zulauf.

Lähmende Streiks

Wer streikt denn heute? Jeden Tag muss man in Deutschland damit rechnen, dass man auf dem Perron oder am Flughafen stecken bleibt. Gestreikt wird auch im Baugewerbe sowie bei der Postbank. Grund für die Häufung: Bei mehreren Berufszweigen laufen die Tarifverträge aus.

Wie ausufernd die Deutschen beim Streiken sind, zeigt ein Vergleich. Zu tagesschau.de sagt Clemens Höpfner, der an der Uni Köln zu Tarif- und Arbeitskampfrecht forscht: «Wir können die Schweiz oder Österreich zum Vergleich nehmen, wo wir eine ähnliche tarifvertragliche Rechtsordnung haben. Und dann sehen wir, dass wir in Deutschland 18 Mal so viele Streiktage wie in Österreich und der Schweiz haben.»

Falsche Prioritäten

Was nur ist los in Deutschland? Alexander Marguier (54), Chefredaktor des deutschen Politmagazins Cicero, sagt zu Blick: «Die Stimmung in der Gesellschaft ist schlecht, weil man den Eindruck hat, dass die Ampelregierung mit den aktuellen Herausforderungen nicht zurechtkommt und dazu noch falsche Prioritäten setzt.»

Mit «falschen Prioritäten» meint Marguier zum Beispiel die Cannabis-Legalisierung, während die Wirtschaft vernachlässigt werde und sich eine langanhaltende Rezession anbahne.

Um Deutschland wieder fit zu machen, brauche es eine Wirtschaftswende, wie sie auch von der FDP gefordert werde, meint der Politikexperte. Leichter gesagt als getan. «Die drei Parteien in der Regierung haben so unterschiedliche Vorstellungen, dass man die Hoffnung auf eine Wende verlieren muss, geschweige denn die Hoffnung auf etwas, das der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder (80) mit seiner Agenda 2010 durchgesetzt hatte.»

Muss Merkel Deutschland retten?

Eine Wende könnte laut Marguier höchstens herbeigeführt werden durch eine starke, wirtschaftsfreundlichere und liberalere Partei wie der CDU. Braucht es also eine Rückkehr der langjährigen CDU-Kanzlerin Angela Merkel (69)? «Es braucht vieles», sagt Alexander Marguier, «aber das ist das Letzte, das es braucht.» Merkel trage eine grosse Mitverantwortung an der heutigen Misere, weil sie Deutschland zu wenig modernisiert und die Migrationskrise mit ausgelöst habe.

Eines darf man bei all der Kritik an Deutschland nicht ausser Acht lassen: Zur schwachen Regierung kommt noch die weltpolitische Lage mit Kriegen in der Ukraine und Nahost hinzu. Marguier: «Dies alles führt zu einer gefährlichen Mischung, die Deutschland in eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krise gestürzt hat.»

Und seine Einschätzung für Blick beendet er mit den Worten: «Das Schweizer Regierungsmodell erscheint mir aus deutscher Sicht immer attraktiver.»

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