Der Name Claus Weselsky (64) ist für viele Deutsche ein rotes Tuch. Der Boss der Lokführergewerkschaft GDL hat in den vergangenen Wochen mit Bahnstreiks von insgesamt 120 Stunden praktisch das ganze Land lahmgelegt, um seine Forderungen nach kürzeren Arbeitszeiten bei gleichzeitig mehr Lohn durchzusetzen. Die Chancen auf Erfolg sind gross: Kommende Woche lässt die Deutsche Bahn mit sich verhandeln.
Im Gespräch mit Blick wird der grosse Kritiker zum grossen Bewunderer des Schweizer ÖV-Systems. Weselsky sagt, wie er dessen Vorzüge selbst schon genossen hat und warum er in der Schweiz bei Missständen nie so hart vorgehen würde wie jetzt in Deutschland.
Blick: Claus Weselsky, aus Angst vor einem Bahnstreik bin ich für dieses Interview zu Ihnen nach Berlin geflogen. Hier streikten aber am Donnerstag Flughafenangestellte und am Freitag die regionalen Verkehrsbetriebe, sodass mein Rückflug verschoben werden musste. Was ist eigentlich los in Deutschland?
Claus Weselsky: Von aussen sieht es natürlich so aus, als ob ein Land in Aufruhr sei. Die verschiedenen Streiks haben aber nichts miteinander zu tun. Es ist eine zufällige Verkettung, weil jetzt hintereinander Tarifverträge auslaufen und es deswegen in verschiedenen Branchen zu Verhandlungen kommt.
Bundesweit die grössten Auswirkungen hatten die von Ihnen organisierten Streiks der Lokführer. Millionen von Pendlern blieben stecken, die Wirtschaft erleidet Schäden in Milliardenhöhe. Ist es nicht verantwortungslos, wenn Sie ein ganzes Land in «Geiselhaft» nehmen, wie Medien schreiben?
Wenn wir an dem Punkt angelangt sind, wo ein Arbeitskampf einer Gewerkschaft als Geiselhaft bezeichnet wird, ist das sowohl bedauerlich als auch bezeichnend. Schliesslich haben die Politiker bei der Privatisierung 1993 den Beamtenstatus abgeschafft und das Streikrecht eingeführt. Der Streik ist unser Druckmittel zur Konsolidierung, denn durch die Privatisierung und Zerlegung der Bahn in Einzelteile wurde das Lohnniveau kontinuierlich nach unten gesenkt, was viele Politiker nicht begreifen.
Der in der DDR aufgewachsene Claus Weselsky (64) ist seit 2008 Vorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die über 40'000 Mitglieder zählt. Der gelernte Dieselmotorenschlosser und Lokführer führt die Gewerkschaft mit eiserner Hand. Sein Vorgänger Manfred Schell (80) warf ihm einen autoritären Führungsstil vor und legte 2013 aus Protest den Ehrenvorsitz der GDL nieder. In der GDL geniesst Weselsky jedoch grossen Rückhalt und wird von Autogrammwünschen überhäuft. Medien bezeichnen Weselsky wegen seiner schmerzhaften Streiks als «meistgehassten Deutschen». Er ist Mitglied der CDU, hat aber keine Absichten, nach seinem Rücktritt als GDL-Chef im Herbst in die Politik einzusteigen. Er wohnt bei Dresden, ist zum zweiten Mal verheiratet und Vater eines erwachsenen Sohnes.
Der in der DDR aufgewachsene Claus Weselsky (64) ist seit 2008 Vorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die über 40'000 Mitglieder zählt. Der gelernte Dieselmotorenschlosser und Lokführer führt die Gewerkschaft mit eiserner Hand. Sein Vorgänger Manfred Schell (80) warf ihm einen autoritären Führungsstil vor und legte 2013 aus Protest den Ehrenvorsitz der GDL nieder. In der GDL geniesst Weselsky jedoch grossen Rückhalt und wird von Autogrammwünschen überhäuft. Medien bezeichnen Weselsky wegen seiner schmerzhaften Streiks als «meistgehassten Deutschen». Er ist Mitglied der CDU, hat aber keine Absichten, nach seinem Rücktritt als GDL-Chef im Herbst in die Politik einzusteigen. Er wohnt bei Dresden, ist zum zweiten Mal verheiratet und Vater eines erwachsenen Sohnes.
Sie gelten auch als der «meistgehasste Mann Deutschlands». Wie leben Sie mit diesem Ruf?
Um den Lokführern zu ihrem Recht zu verhelfen, braucht es offenbar einen Buhmann. Ich mache das jetzt schon zum wiederholten Mal. Man muss aber auch beachten, dass die öffentliche Meinung nicht immer mit der veröffentlichten Meinung übereinstimmt. Viele Angestellte wären froh, wenn sie eine so starke Gewerkschaft im Rücken hätten.
Die deutsche FDP fordert, dass Lokführer durch künstliche Intelligenz ersetzt werden sollten. Sind Lokführer bald überflüssig?
Die Frage, wie die Züge vollautomatisch fahren können, ist nicht geklärt. Auch muss man berücksichtigen, dass bei einem Lokführer, der 800 Passagiere oder 2000 Tonnen Güter befördert, betriebswirtschaftlich eine hohe Effizienz besteht. Und wer davon träumt, den Beruf Lokführer zu automatisieren, darf davon ausgehen, dass eine Eisenbahn von digitalen Stellwerken gelenkt wird – so wie heute Kampfdrohnen von Kommandozentren aus bedient werden.
In Deutschland liegt die Pünktlichkeit der Züge bei 64 Prozent, in der Schweiz bei 92,5 Prozent. Was läuft bahntechnisch falsch in Deutschland?
Ganz klar: Wir haben ein Missmanagement. Was wir erleben, ist ein Schleifen eines Eisenbahnsystems. Der Traum war, durch Privatisierung und den Börsengang Riesengewinne zu erzielen. Niemand hat das Ganze überwacht, jahrzehntelang sind Gelder falsch eingesetzt worden. Die Privatisierung hat zu einem Desaster geführt.
Wo wurde falsch investiert?
Die Deutsche Bahn hat zum Beispiel Investitionen am Ende der Welt gemacht. So baut sie in Venezuela eine neue Strecke, in Toronto machen wir Regionalverkehr. Wir sind überall auf der Welt tätig, haben aber unser eigenes Eisenbahnsystem nicht im Griff. Die Deutsche Bahn hat Köpfe an der Spitze, die nicht vom Fach kommen, sondern stark beeinflusst sind von der Lufthansa oder infiltriert von der Autolobby.
Vor wenigen Tagen haben Sie öffentlich das Schweizer Bahnsystem gepriesen. Was ist da besser?
Es basiert in der Schweiz auf einem Volksentscheid, dass der öffentliche Verkehr gefördert wird. Milliarden werden für den Ausbau der Infrastruktur eingesetzt. Das Zusammengehen von Eisenbahnen, Bussen und Strassenbahnen funktioniert, weil es von einer Behörde überwacht und strategisch weiterentwickelt wird, die den Namen auch verdient, nämlich vom Bundesamt für Verkehr. Bemerkenswert finde ich auch, dass man sich nicht scheut, bei einer Fehlentwicklung Köpfe auf höchster Ebene auszuwechseln.
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich in der Schweiz gemacht?
Wir waren auf einer Wanderung in den Bergen und haben uns vertan, was die Entfernung betrifft. Dann schaue ich auf eine App und nehme einen Postbus, der mich zur Regionalbahn im Tal führt. Ich komme ohne Auto in einem in sich schlüssigen System wieder dorthin, wo wir gestartet sind. Das finde ich klasse. Sowas gäbe es bei uns nie.
Die Schweiz ist ja von der Grösse her auch überschaubarer, was eine Abstimmung der öffentlichen Verkehrsmittel einfacher macht.
Klein heisst nicht einfacher. Das System in der Schweiz ist wegen der Geografie sehr kompliziert. Und was man im Kleinen schafft, lässt sich ohne weiteres auch auf Grosses übertragen.
Ist die Schweiz Ihr Vorbild in Sachen Eisenbahn?
Absolut. Ich bewundere den Weitblick, mit dem das System des öffentlichen Verkehrs entwickelt worden ist. Als Transitland darf die Schweiz auch ohne weiteres Trassengebühren erheben, schliesslich hat sie in den vergangenen Jahren Milliarden, wenn nicht Billionen, investiert in eine Infrastruktur, die beispielhaft ist. Der Gotthard-Basistunnel ist eine geniale Sache. Und ich verstehe, dass die SBB die verspäteten ICE aus Deutschland nicht mehr in die Schweiz fahren lassen. Denn jeder Eisenbahner weiss, nur damit schützt man das System, das bei jeder importierten Verspätung leidet.
Aber auch in der Schweiz klappt nicht alles. Von Luzern nach Zürich sind vergangene Woche gleich zwei Züge hintereinander ausgefallen.
Dafür ist der Fahrplan sehr dicht. Als ich an einer Versammlung teilnahm, sind wir anschliessend in Bern abendessen gegangen. Gegen Mitternacht nahm jeder den Zug in seine Richtung. Bei uns ist ja schon um acht, halb neun Schluss zwischen der Hauptstadt Berlin und der Medienstadt Leipzig.
Zudem arbeiten in der Schweiz die Lokführer 41 Stunden und nicht nur 35, wie Sie es für Ihre Leute fordern.
Man darf nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Die Schweizer Lokführer haben keine so hohe Verdichtung bei der Arbeit hinzunehmen. Sie haben auch ein anderes Einkommens- und Lebensniveau als ihre deutschen Kollegen. Wir haben hier ein massives Problem, Nachwuchs zu finden. Die 35-Stunden-Woche ist unsere Idee, um die Schichtarbeit attraktiver zu machen.
Die SBB locken deutsche Lokführer mit «Mach was Grosses, beweg’ die Schweiz mit uns». Verärgert Sie diese Abwerbung?
Nein, ich kann den Kollegen eigentlich nur dazu raten, weil sie in Deutschland im Moment sowieso nur grossen Frust erleben – dank dieser Nieten in Nadelstreifen.
Stehen Sie mit Schweizer Gewerkschaften in Kontakt?
Ich besuche regelmässig die Generalversammlung des Verbands Schweizer Lokführer und Anwärter (VSLF), die jedes Jahr an einem andern Ort stattfindet. Dieses Jahr bei strahlendem Sonnenschein in Brig. Es war fantastisch.
Auch in der Schweiz sind Lokführer unzufrieden, etwa weil die Zeiten der Touren verlängert worden sind. Müsste sich die Schweiz auf Streiks gefasst machen, wenn Sie deren Gewerkschaftsboss wären?
In der Schweiz würde ich nie einen Lokführer-Streik organisieren – und zwar weil ich in der Schweiz erlebe, was wir früher hier auch hatten, nämlich eine hohe Akzeptanz des ehrenwerten Berufs des Lokführers. In Deutschland haben wir eine Amerikanisierung zu verzeichnen, die unter der Überschrift «Dienstleistungsgedanke» Putzlappen der Nation herbeiführen will. Das schweizerische Wertegefüge ist gesamthaft gesehen konsensorientierter. Im Vordergrund stehen die verbale Auseinandersetzung und die Einsicht zur Notwendigkeit, dass man motivierte Eisenbahner behalten muss.
Nach den Verhandlungen mit der Deutschen Bahn diese Woche herrscht bis zum 3. März Friedenspflicht. Schlagen Sie wieder mit Streiks zu, wenn die Verhandlungen scheitern?
Darüber will ich erst sprechen, wenn wir keinen Kompromiss erreichen sollten. Wenn ich jetzt mit Streik drohe, würde jeder sagen, der Weselsky will ja gar kein Ergebnis erzielen. Wir legen Wert darauf, dass es zum Kompromiss kommt.