Auf einen Blick
Keine Spickzettel, kein Publikum, kein Böckchen, auf das sich Kamala Harris (1,64 Meter) stellen darf, um ihrem Kontrahenten Donald Trump (1,90 Meter) physisch ebenbürtig zu sein: Das sind die Regeln für den Fernsehabend am Dienstag (Ortszeit) in Philadelphia, wo sich Trump (78) und Harris (59) im Scheinwerferlicht des Senders ABC zum allerersten Mal begegnen.
Richtig gelesen: Der Republikaner und die Demokratin haben sich noch nie die Hände geschüttelt. Fraglich bleibt, ob sich das am Dienstag ändert. Bei der letzten Debatte zwischen Joe Biden (81) und Trump gabs nämlich keinen «Handshake». Harris dürften aber andere Sorgen plagen als solche Nebensächlichkeiten. Sie droht in ihrer allerersten Präsidentschaftsdebatte (für Trump ist es die siebte!) in eine Falle zu tappen.
Die Bedeutung des Schlagabtauschs ist immens. In der einzigen Direktbegegnung zwischen Trump und Harris vor dem Wahltag am 5. November kann ein grösserer Aussetzer das politische Aus bedeuten. Biden kann davon nach seinem Katastrophenauftritt bei der Debatte Ende Juni ein Liedchen singen.
So knapp war das Rennen seit 1964 noch nie
Seit 1964 war kein US-Präsidentschaftsrennen zu diesem Zeitpunkt im Wahljahr so knapp wie der Showdown zwischen Trump und Harris. Der Republikaner liegt national ein Prozent vor Harris. Laut einer neuen New York Times-Umfrage 48 zu 47 Prozent. Dieselbe Umfrage hält fest: Fast jeder dritte Amerikaner sagt, er wisse noch zu wenig über Harris' Politik, um sich ein Bild von ihr machen zu können.
Harris hat bislang darauf gewettet, dass das US-Publikum angesichts der beängstigenden Alternative sowieso bereit sei, die Katze im Sack zu wählen. Über einige wenige Positionierungen beim Thema Abtreibung und Grenzschutz hinaus hat sie sich bislang nicht auf verbindliche Versprechen festgelegt. Nicht einmal auf ihrer Homepage können sich Wählerinnen ein konkretes Bild davon machen, was Harris will. Statt ein Wahlprogramm gibt es da haufenweise «Spende jetzt»-Schaltflächen.
Harris muss die Debatte am Dienstagabend also dafür nutzen, endlich die Karten auf den Tisch zu legen – könnte man meinen. Aber Achtung: Politik-Experten mahnen Harris zur Zurückhaltung. «Wäre ich ihr Berater, würde ich ihr sagen: ja nichts Konkretes!», erklärt der Schweizer Wahlkampf-Stratege Louis Perron. Schon der römische Rhetorik-Profi Cicero habe gewusst, dass man Debatten mit Emotionen und weniger mit Inhalten gewinne.
Der republikanische Polit-Profi Mike Murphy erinnert in seinem Podcast «Hacks on Tap» daran, dass konkrete Vorschläge nichts anderes seien als Munition für die gegnerische Seite. Aus Harris' konkreten Positionen würde ihr Trump sofort einen Strick zu drehen versuchen: zu radikal, zu links, genau das Gegenteil von dem, was sie früher sagte.
Nicht einmal zu Plastikröhrchen hat Harris eine klare Meinung
Besonders natürlich, weil sich die Demokratin einen Namen als Windfahne im amerikanischen Polit-Sturm gemacht hat. Die Plattform «Axios» hat vergangene Woche eine Liste von zentralen Themen veröffentlicht, bei denen Harris ihre Meinung fundamental geändert hat. Darunter der Grenzmauerbau (früher dagegen, jetzt dafür), die Öl- und Gasgewinnungsmethode «Fracking» (früher dagegen, jetzt dafür) und das Verbot für Plastikröhrchen (früher dafür, jetzt dagegen).
Harris muss sich also entscheiden: Will sie am Dienstag konkret werden, um jenen Drittel der Wählerschaft abzuholen, der mehr über ihre Ideen wissen will? Oder gibt sie sich bewusst schwammig, um Trump nicht noch mehr Munition für seine Windfahnen-Vorwürfe zu liefern?
Über diese Frage brütet derzeit ein Experten-Team, das Harris im Omni William Penn Hotel in Pittsburgh auf die Debatte vorbereitet. Mit dabei: der Polit-Berater und Trump-Imitator Philippe Reines (54), der schon Hillary Clinton vor ihren Debatten 2016 auf Trump eingeschossen hat. Ging nicht gut aus für Hillary damals…
Auch Trump setzt für einmal nicht auf Improvisation, sondern übt für die Debatte fleissig mit Harris-Imitatorinnen und Leuten, die ihn beknien, nicht allzu aggressiv aufzutreten und keine unentschlossenen Wechselwähler zu verschrecken.
Einen ersten Teilsieg hat Trump schon errungen: Er darf entscheiden, auf welcher Seite der Bühne er stehen will. Den Münzwurf-Entscheid hat er gewonnen.