Unser Nachbarland ist in Angst um und vor sich selbst
Die Deutschen zittern vor der Schicksalswahl

Blick war in den vergangenen Wochen dreimal auf Deutschland-Tour, um die Menschen in unserem nördlichen Nachbarland nach ihren Ängsten und Hoffnungen zu fragen. Am Sonntag fällt die Entscheidung.
Publiziert: 00:08 Uhr
Am Sonntag wählt Deutschland sein Parlament. Die Wahl entscheidet auch darüber, wer das Land zukünftig regiert.
Foto: IMAGO/Achille Abboud

Auf einen Blick

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Am Tag vor der Schicksalswahl ist Deutschland ein Land in Angst um und vor sich selbst. 59 Millionen Wahlberechtigte entscheiden am Sonntag darüber, wer die grösste Volkswirtschaft Europas nach dem Crash der Ampel-Regierung in die Zukunft führen soll.

«Sicher nicht die AfD», sagt Ronja Zeisberg (32). Sie steht am Samstagmittag auf dem Berliner Alexanderplatz. Die freundliche Wintersonne täuscht über die angespannte Stimmung in der Hauptstadt hinweg. «Leider macht die AfD das mit den sozialen Medien aber richtig gut.» Sie arbeite in der Kinder- und Jugendhilfe. «Die Kids finden die Partei super, ohne zu wissen, wofür sie steht.»

Rund 20 Prozent der Deutschen wollen die Alternative für Deutschland laut jüngsten Umfragen an der Macht sehen. Für Grünen-Wähler Dennis Sulaiman (36), der mit Winterschal und Sonnenbrille über die Karl-Marx-Allee schlendert, keine Überraschung. «Ihre populistischen Sprüche sind ein guter Nährboden für all die Menschen, die sich abgehängt fühlen.»

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Am Sonntag wählt Deutschland sein Parlament. Die Wahl entscheidet auch darüber, wer das Land zukünftig regiert.
Foto: IMAGO/Achille Abboud

Besuch im Rekord-AfD-Dorf

Blick war in den vergangenen Wochen dreimal in Deutschland unterwegs, um mit den Menschen über ihre Sorgen und Hoffnungen zu sprechen. Auch in Karlsdorf in Thüringen, wo bei den letzten Wahlen 72 Prozent der Menschen die AfD gewählt hatten. Deutschland-Rekord.

Abgehängt fühlt sich der parteilose Bürgermeister Jürgen Müller (62) ganz und gar nicht. Aber «angearscht» von jenen Politikern, die das Land wirtschaftlich zugrunde richten. Zwei Jahre hintereinander hatte Deutschland jetzt ein negatives Wirtschaftswachstum. Das ist einzigartig in Europa. «In der DDR haben wir das alles schon mal erlebt. Deutschland braucht den Wandel.» Also wählt er AfD? Will er nicht sagen – wie auffällig viele Deutsche dieser Tage ihre Wahlpräferenzen am liebsten für sich behalten.

Nicht so Gudrun Dietsch (72). Die parteilose Rentnerin und Linken-Wählerin sass lange im Stadtrat von Raguhn-Jessnitz, der ersten Stadt Deutschlands mit einem AfD-Bürgermeister. «Ganz schlimm» sei diese Partei, Deutschland stehe vor einer «gruseligen Situation», sagt Dietsch im Gemeinschaftsraum neben dem Altjessnitzer Irrgarten, einem der grössten Landschaftsgärten in Sachsen-Anhalt. Verirrt? Ja, das habe sich Deutschland. «Die AfD gaukelt den Menschen vor, es gäbe einfache Lösungen für die komplexen Probleme. Sie zählen darauf, dass die Menschen verdummen.»

Links, Mitte oder AfD: So wollen die Deutschen morgen wählen
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Schicksals-Wahl im Nachbarland:Links, Mitte oder AfD: So wollen die Deutschen wählen

Entscheidung erst in mehreren Wochen

Dumm sei nur die kurzsichtige Planung der Politiker, betont Cem Ince (31), der in der niedersächsischen Industriestadt Salzgitter für die Linke in den Bundestag gewählt werden will. «Deutschland hat die E-Mobilität zum Goldstandard ausgerufen, aber keine Infrastruktur dafür geschaffen», nervt sich der VW-Mitarbeiter. Die «Scheindebatten», mit denen man jetzt von überall her das Land zu spalten versuche, brächten nichts.

Besonders nervt den Sohn türkischer Einwanderer die Hetze gegen Ausländer, die von rechts bis weit in die Mitte hinein aufflackere. «Ich frage mich, ob ich mich in Deutschland nach diesen Wahlen überhaupt noch wohlfühlen kann. Es gibt viele Migranten hier, die das Land am Laufen halten.» Dass sie zu den Prügelknaben populistischer Kräfte degradiert werden, sei nichts als unfair.

Welche Parteien-Koalition die 84-Millionen-Nation inskünftig durch die geopolitischen Irrgärten der 20er-Jahre führt, wird man voraussichtlich erst in ein paar Wochen wissen. Nach den Wahlen am Sonntag stehen dem Land schwierige Verhandlungen über das «wer mit wem» bevor. Klar ist: Niemand will mit der AfD unter die Decke. Unklarer ist, wie sehr der Ausschluss der Rechtspopulisten dem Land dabei hilft, den politischen Friedensschluss mit sich selbst zu vollziehen.

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