Auf einen Blick
Mit Journalisten spricht Jürgen Müller (62) eigentlich nicht. Was soll er ihnen schon sagen: 72 Prozent der Menschen in seinem Dorf haben bei den letzten Wahlen die AfD gewählt. Deutschland-Rekord. «Ist halt so», sagt der Gemeindepräsident von Karlsdorf im ostdeutschen Thüringen und stellt Bier und Butterbrote auf den Stubentisch.
117 Menschen wohnen hier zwischen sanften Hügeln und weiten Feldern. Traktoren, aufgeräumte Gärten, Fachwerkfassaden. Schmuck siehts aus. Schon 2016, als die AfD erstmals bei lokalen Wahlen antrat, warfen mehr als die Hälfte der Karlsdorfer für die Rechtspartei ein. Ganz Deutschland rieb sich die Augen, das russische Fernsehen kam, erste Hassmails flatterten rein.
Er solle doch gleich «Nazi-Dorf» auf das Ortsschild schreiben. «Dabei gibt’s keinen einzigen Nazi hier, keine Rassisten, nix», ruft Jürgen Müller durch die Stube. Dass drei von vier Karlsdorfern die AfD wählen, das erklärt er sich ganz anders.
Musk könnte das Karlsdorfer Funkloch-Problem lösen
«Das haben wir Ossis den Wessis voraus: Wir wissen, dass wir von denen da oben angearscht werden. Wir haben das in der DDR ja alles schon mal erlebt», erzählt der Polier und leidenschaftliche Gemeindepräsident. Sein 80-jähriger Nachbar, der habe ein Leben lang die Linke unterstützt. Jetzt: AfD. Er selbst habe früher SPD gewählt. Heute? Undenkbar! Genauso wenig wie die CDU: «Merz ist ein typischer Anklopfer: Der lässt nen Schuss los und krebst dann sofort zurück. Sieht man ja jetzt.» Darauf habe er keine Lust.
Genauso wenig wie auf das ewige Schuldgefühl, diese immerwährende Selbstbezichtigung. «Wieso muss ich mich denn schuldig fühlen für etwas, das vor 80 Jahren passiert ist?», fragt sich der parteilose Müller. AfD-Mitglied, nein, das sei er nicht. Aber er verstehe jeden, der genug habe von der alten Politik. Und Elon Musk, der südafrikanische Multimilliardär und AfD-Unterstützer? «Der ist hier willkommen! Für den fänden wir sofort ein Grundstück.» Er soll nur gleich ein paar seiner Starlink-Satellitenschüsseln mitbringen. «Dann hätten wir das Funkloch-Problem gelöst», lacht Müller.
Ein paar Hausnummern weiter unten kratzt Nadja Lindner (36) das Eis von der Autoscheibe. Hinter dem Haus der Tierärztin traben schwarze Pferde über die Weide. «Die AfD hat als einzige Partei wirklich bürgernahe Programme, bei der Schulpolitik, zum Beispiel», sagt die dreifache Mutter. Das Bildungsniveau sinke bedenklich, das Abitur sei bald nichts mehr wert. «Statt in unser wichtigstes Gut zu investieren, spart man an allen Ecken und Enden», klagt Lindner.
Und natürlich, die Landwirtschaft: «So, wie das im Moment läuft, kanns nicht weitergehen.» Zu viele Auflagen, zu viele Regulierungen. «Und mit der grünen Energiewende rechnet sich die Produktion schlicht nicht mehr», sagt Lindner. Dass die anderen Parteien jetzt «Brandmauern» gegen die AfD errichten und sich abgrenzen wollen, kann sie nicht verstehen. «Affig» sei das. «Die Politik muss doch im Sinne des Volkes handeln und schauen, was für uns das Beste ist.»
Die Prognose des Karlsdorfer AfD-Gurus
Nadja Lindner steigt ein und braust davon. Nebenan plätschtert der Weissbach durch den schattigen Morgen. 1847 baute man eine erste Steinbrücke über das Gewässer. Die Karlsdorfer ignorierten sie und fuhren lieber quer durchs Bachbett, wie eh und je. Für «neumodisches Zeug» wie Brücken hatte man wenig übrig. Steht so in der Dorfchronik.
Manfred Mortzeck (76) hat die genau studiert. Der einstige Antiquitäten-Buchhändler lebt seit 25 Jahren in Karlsdorf. «AfD-Guru» nennen sie ihn hier. Er verteilt Flyer, hilft im Wahlkampf. «Die Bürokratie, die Verwaltung in diesem Land, das hat fast schon etwas Herrschaftliches», sagt der Rentner mit der sanften Stimme und dem eindringlichen Blick. «Die AfD ist die einzige Chance, da grundlegend was zu ändern.»
Verdrossen sei er ob der «linken Parteienkoalition», verdrossen wie so viele im Land. Statt «idiotische Utopien» brauche es jetzt Verstand und Volksnähe. Aber Deutschland sei nicht bereit für diesen Wandel. Zu gut gehe es den Menschen, zu viel Wohlstand versperre den Blick auf das Disfunktionale im germanischen Untergrund.
In Karlsdorf, da habe man das bereits verstanden, sagt Manfred Mortzeck. «Dass hier drei von vier für die AfD sind, das erstaunt mich nicht. Mich erstaunt nur, dass man darüber so erstaunt ist.»