Ukraine kämpft in Davos gegen das Vergessen
Es gibt hoffnungsvolle Zeichen – doch Schweiz steht weiter im Abseits

Der ukrainische Präsident ist der Stargast des 55. Weltwirtschaftsforums in Davos. Selenskis Rede vor dem mächtigen Publikum war eindringlich wie nie. Doch die Ukraine droht, in Vergessenheit zu geraten. Eine Analyse.
Publiziert: 21.01.2025 um 19:46 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2025 um 22:20 Uhr
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ist auch dieses Jahr Stargast am WEF.
Foto: keystone-sda.ch

Auf einen Blick

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Wolodimir Selenski (46) hat keine Zeit mehr für schnulzige Reden. Im ersten und zweiten Kriegsjahr, da versuchte er noch, seine europäischen Alliierten mit schönen Metaphern zum Mitmachen und Mitkämpfen in der Ukraine zu bewegen. Jetzt aber, fast drei Jahre nach dem russischen Überfall auf sein Land, ist dem kleinen Mann mit der rauchigen Stimme die Freude am Fabulieren endgültig vergangen.

«Die ganze Welt blickt nach Washington. Europa ist nur noch ein Zuschauer. Unsere Entscheidungsträger geben auf X ihren Senf dazu, wenn andere Teile der Welt wichtige Deals miteinander eingehen», schmetterte Selenski bei seinem dritten Auftritt am WEF in Davos mit sichtlich enttäuschtem Blick ins Publikum. Europa habe mehr verdient, aber es drohe, endgültig in die Bedeutungslosigkeit abzudriften. Es gäbe nur ein Rezept, um den Alten Kontinent beim Anbruch der neuen Trump-Ära zu retten.

«Wir müssen uns als starken, unabhängigen Player etablieren, ohne die ganze Zeit nach Washington zu schielen.» Auf Donald Trumps (78) Prioritätenliste käme Europa weit, weit hinten. 

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) ist auch dieses Jahr Stargast am WEF.
Foto: keystone-sda.ch

Serbiens Präsident verlässt demonstrativ den Saal

Der ukrainische Präsident, der anders als im vergangenen Jahr nicht mit dem Zug, sondern mit dem Helikopter ins Bündnerland reiste, zählt nicht mehr länger darauf, dass Amerika die Europäer vom russischen Fluch befreien wird. Am Anfang des Krieges hätten amerikanische Waffen noch 90 Prozent des ukrainischen Kriegsarsenals ausgemacht. Jetzt seien es noch 30 Prozent.

Europa springt in den Augen Kiews nicht entschieden genug in die Bresche. Wie gespalten der Kontinent bezüglich Ukraine ist, zeigt sich auch in Davos. Serbiens Präsident Aleksander Vucic (54) verliess nur Minuten vor Selenskis Auftritt demonstrativ den Saal. Serbien gehört mit Ungarn und der Slowakei zu jenen Ländern Europas, die den Krieg lieber heute als morgen beenden und vergessen würden, um wieder nach den alten Regeln mit Russland ins Geschäft zu kommen.

Amerika schaut weg. Europa ist gespalten. Wladimir Putin (72) ist so entschlossen wie eh und je. Und die Ukraine buhlt am Mega-Event WEF zusehends verzweifelt um die Aufmerksamkeit des einflussreichen Publikums. Auch im Ukraine House der Victor Pinchuk Foundation, der Stiftung des zweitreichsten Ukrainers. Da flimmern Alltagsszenen aus dem Kriegsland über die Bildschirme. «Das ist ein Livestream eurer eigenen Zukunft, wenn ihr Russland in der Ukraine nicht stoppt», steht warnend an der Wand.

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Dämpfer für Schweizer Diplomatie

Auf einem Panel im oberen Stock erzählen ukrainische Soldaten von der Brutalität der Russen, die Mädchen vergewaltigten und Gefangene köpften. «Wir sind Weltmeister im Kämpfen. Aber alleine schaffen wir es nicht, die Russen zu stoppen», warnte Dmitry Finashyn (30), der an der Front den ganzen linken Arm und die halbe rechte Hand verloren hatte. Blick traf ihn schon vor zwei Jahren in der Ukraine.

Die Schweiz beschränkt ihr Engagement für die Ukraine weiterhin auf humanitäre Hilfe und diplomatische Floskeln. Damit werde sie nie einen entscheidenden Unterschied machen, sagt Carl Bildt (75) ehemaliger schwedischer Premierminister, am WEF zu Blick. «Ich bezweifle, dass die Schweiz bei der Lösung des Ukraine-Konflikts wirklich eine diplomatische Rolle spielen kann.»

Auf eine diplomatische Lösung ist Selenski derzeit ohnehin nicht aus, mindestens so lange nicht, bis die Nato der Ukraine handfeste Sicherheitsgarantien gäbe. 800'000 Soldaten stünden in der Ukraine derzeit im Sold, um die rund 600'000 russischen Angreifer mit ihren rund 12'000 nordkoreanischen Unterstützern zu bremsen. Im Norden habe man die Russen gestoppt, in der Region Kursk bekundeten sie grösste Mühe, den ukrainischen Vorstoss einzudämmen. Nur im Osten rückten Putins Truppen weiter vor.

Neue Militärverträge für ukrainische Teenager

«Wir haben neue Drohnen, die sonst niemand hat – produziert bei uns in der Ukraine», sagt Selenskis Sprecher Sergej Nikiforov in Davos zu Blick. Dazu kämen neue Langstreckenraketen. «Und attraktive Militärverträge für 18- bis 24-jährige Männer und Frauen, die in die Armee möchten.» Diese Altersgruppe war bis vor Kurzem nicht Teil der ukrainischen Kriegsplanung. Es gäbe also durchaus gute Gründe, optimistisch zu sein.

Und noch einen Grund gäbe es, optimistisch zu bleiben, sagt der schwedische Russland-Kenner Anders Aslund (72) in Davos zu Blick: «Trump hat die Ukraine bei seiner Antrittsrede nicht erwähnt. Das ist ein gutes Zeichen.» Es zeige, dass er vielleicht gar nicht so entschlossen sei, die amerikanische Militärhilfe für die Ukraine zurückzufahren. Überraschungen bleiben möglich. Sie wären bitternötig, damit die Ukraine am nächsten WEF nicht wieder verzweifelt dagegen ankämpfen muss, in Vergessenheit zu geraten.

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