«Man kann gar nicht schreien, man ist verwirrt»
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Dmytro (28) verlor seinen Arm:«Man kann gar nicht schreien, man ist verwirrt»

Ukrainischer Sniper packt aus
«Meinen Arm könnt ihr haben, aber nicht mein Land»

Der Krieg hat Millionen ihr gesamtes Hab und Gut geraubt. Anderen noch viel mehr. Wie denkt einer über den Krieg, der auf dem Schlachtfeld einen Teil seines Körpers gelassen hat? Ein ukrainischer Sniper erzählt.
Publiziert: 24.02.2023 um 10:37 Uhr
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Aktualisiert: 27.02.2023 um 15:35 Uhr
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Dmytro Finayshin (28) hat auf dem Schlachtfeld im Donbass seinen linken Arm verloren.
Foto: Samuel Schumacher
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Sterben wäre das Einfachste gewesen. Er hätte einfach die Augen schliessen und loslassen können. Der Schmerz, die Kälte, der Durst: Alles wäre irgendwann vorbeigegangen. Sein kaputter Körper hätte irgendwann aufgegeben.

Doch Dmytro Finashyn (28) ist nicht gestorben. Diesen Sieg wollte er den Russen, die da drüben standen und auf ihn schossen, nicht schenken. So erzählt er Blick in der Cafeteria des Pinchuk Art Centres, ein Kunstmuseum mitten in Kiew, von dem Tag, an dem er einen Teil seines Körpers verlor – aber nicht seine Zuversicht.

Der 23. Mai war ein heisser Tag. Und ein tödlicher auf den Schlachtfeldern hinter der Kleinstadt Soledar, die damals noch unter ukrainischer Kontrolle stand. Finashyn und seine Kameraden der ukrainischen Armee gerieten ins Kreuzfeuer der Russen. Finashyn schleppte gerade einen verwundeten Freund durch das Feld und duckte sich unter den russischen Salven weg, als er selber an der rechten Hand getroffen wurde.

In die Hosen machen? Lieber wäre er gestorben

«Mein Zeigefinger hing nur noch runter. Ich versuchte, ihn abzuschneiden, aber das ging nicht.» Finashyn zeigt seine zur Klaue verstümmelte rechte Hand. Die Linke hat er gar nicht mehr. Den ganzen linken Arm haben sie ihm in Bachmut amputiert. Ein zweiter Schuss zerfetzte diesen auf dem Schlachtfeld hinter Soledar – und hätte Finashyn fast ins Nirvana geschickt.

«Das schmerzt so sehr, dass du gar nicht mehr kapierst, was mit dir passiert», erzählt der Scharfschütze. «Du merkst nur, dass irgendwas mit deiner linken Seite nicht mehr stimmt.»

Stark verwundet kroch er durch das Schlachtfeld. «Ich merkte, dass ich viel Blut verliere. Mehrmals fiel ich in Ohnmacht. Die Halluzinationen waren eine Qual.» Immer wieder erschienen ihm vermeintliche Retter. Doch als er durch den kalten Matsch auf sie zukroch, lösten sie sich in Luft auf.

Finashyn schlürfte dreckiges Wasser aus den Pfützen und versuchte, stets in Bewegung zu bleiben, damit er nicht erfror. Als sich der Darm in seinem zerschossenen Körper zu Wort meldete, löste er unter grössten Schmerzen seinen Gurt und zog die Hosen herunter. Die ukrainische Uniform befleckt man nicht, nicht als Patriot, egal, was es kostet.

Hunderttausende tote Soldaten – und kein Ende in Sicht

Zwei Tage lang dauerte Finashyns Tortur, bis ihn ein ukrainischer Suchtrupp endlich fand und aus der Gefahrenzone brachte. Aufgeben? War nie eine Option. «Meinen Arm könnt ihr haben, aber nicht mein Land», sagte er sich.

Wie viele Menschen auf den Schlachtfeldern in der Ukraine verwundet oder getötet worden sind, lässt sich kaum sagen. Sowohl Moskau als auch Kiew weigern sich aus kriegstaktischen Gründen, genaue Zahlen zu veröffentlichen.

Amerikanische Schätzungen gehen davon aus, dass in der Ukraine nahezu 200'000 Russen getötet oder verwundet worden sind. In der vergangenen Woche sollen alleine rund um Bachmut täglich mehr als 800 russische Soldaten gestorben sein. Auf der ukrainischen Seite dürften es insgesamt gegen 120'000 getötete oder verwundete Soldaten sein. Dass die Todeskurve bald abflacht, daran glauben nur die wenigsten.

Auch wenn Dmytro Finashyn den Horror des Krieges am eigenen Leib erfahren hat – verbittert wirkt er nicht. «So ist das jetzt halt», sagt der junge Mann und setzt sein breites Zahnlückenlächeln auf. Der rote Bart ist fein säuberlich getrimmt, die Uniform mit dem zugenähten linken Ärmel sitzt perfekt.

Mit Boris Johnson in Washington D.C.

Für seinen Einsatz erhielt der Scharfschütze von Präsident Wolodimir Selenski (45) höchstpersönlich die Auszeichnung «Held der Ukraine». Kürzlich reiste er als Begleiter des britischen Ex-Premiers Boris Johnson (58) nach Washington D.C., um in der amerikanischen Hauptstadt für seine Heimat zu werben.

«Wir müssen alles tun, um den Sieg zu erreichen», sagt Fynashin. «Wir haben schon viel zu viel dafür gegeben, um jetzt einfach die Waffen zu strecken.» Unter keinen Umständen wolle er, dass seine Frau und seine Familie dasselbe miterleben müssten, was den Menschen im Osten der Ukraine derzeit widerfahre.

Das wünscht der Profi-Sniper auch dem Rest Europas: «Vergesst nicht, was da in der Ukraine gerade passiert», sagt Finashyn. Die Russen hätten keinen Respekt vor dem Leben. «Ihre Verwundeten lassen sie einfach liegen. Wenn einer ihrer Panzer auf eine Mine fährt und explodiert, dann fahren die anderen Panzer einfach drumherum und weiter gerade aus. Das habe ich selbst so gesehen.» Solche Leute würden vor nichts Halt machen. «Wir müssen sie stoppen!»

Finashyns Kampfeswille ist ungebrochen. «Sobald ich im März in Polen meine Spezialprothese erhalte, will ich mich erneut für die Selektion bewerben», sagt er. Nur seine Frau, eine Bankerin, ist von der Idee wenig begeistert. «Da arbeite ich dran», sagt Dmytro Finashyn. «Wir alle müssen für den Sieg unsere Opfer bringen.»

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