USA, Grossbritannien, Deutschland, Dänemark, Polen: Mehrere Nato-Mitgliedsstaaten haben der Ukraine die Erlaubnis gegeben, mit den von ihnen gelieferten Waffen auf Ziele auf russischem Gebiet zu schiessen. Zuvor hatte Nato-Chef Jens Stoltenberg (65) Länder, die Waffen an die Ukraine liefern, dazu aufgerufen, ein entsprechendes Verbot aufzuheben.
Was bedeutet die Waffen-Wende für den Kriegsverlauf? ETH-Militärexperte Marcel Berni (36) ordnet ein.
Was bringt der Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet?
«Russland hatte bisher den Vorteil, mehr oder weniger sicher vom eigenen Staatsgebiet aus die Gebiete um Charkiw unter Feuer zu nehmen», sagt Berni zu Blick. «Die Ukraine konnte sich nur mit eigens gebauten Drohnen und alten Waffensystemen mit begrenzter Reichweite wehren.» In der Region Charkiw haben die Russen deshalb in den vergangenen Wochen mehrere Dörfer erobert und Geländegewinne erzielt.
Das könnte sich nun ändern. Die Orte im Grenzgebiet zur Region Charkiw, an denen Russland Truppen und Waffen für den Einsatz sammelt oder von denen Angriffe ausgehen, können laut Berni nach der Waffen-Wende besser bekämpft werden. Gegenschläge dürften intensiver und präziser ausfallen, vermutet der Militärstratege.
Welche Waffen könnte die Ukraine jetzt einsetzen?
US-amerikanische ATACMS-Kurzstreckenraketen, die deutsche Panzerhaubitze 2000 oder der britische Panzer Challenger II: Ein Grossteil des ukrainischen Arsenals kommt mittlerweile aus dem Westen.
Doch für den Einsatz der geballten westlichen Feuerkraft gelten Beschränkungen. «Es dürfen derzeit nur Ziele im Umkreis der unlängst eröffneten Nordfront bei Charkiw angegriffen werden», erläutert Berni.
Die USA verbieten weiter einen Einsatz von Raketen mit grosser Reichweite im Inneren Russlands. Berlin und Washington erlauben gerade mal einen Beschuss in einem Gebiet nahe der Region Charkiw mit einem Radius von 40 Kilometern, wie «Bild» schreibt.
Was kommt nun also zum Einsatz? Berni: «Ich gehe davon aus, dass es sich vor allem um westliche Artillerie- und Luftverteidigungssysteme sowie Marschflugkörper handelt.»
Wie wird die Ukraine die Waffen voraussichtlich einsetzen?
«Es dürften vor allem militärische Ziele nördlich und östlich von Charkiw ins Visier genommen werden», erklärt Berni. Bedeutet vermutlich: Die Ukraine wird die Angriffe auf militärische und auch militärisch genutzte zivile Ziele im russischen Grenzgebiet, etwa Öllager, Flughäfen, Energieinfrastruktur oder wichtige Eisenbahnknotenpunkte ausweiten.
Folgt nach der Waffen- auch eine Kriegswende?
An eine Kriegswende aufgrund der Waffen-Wende glaubt Berni nicht. Eine deutliche Veränderung der Frontsituation erscheint unwahrscheinlich, auch aufgrund der von den USA und Deutschland diktierten Einschränkungen.
«Russland wird sich bald anpassen und die eigene Logistik dezentraler aufstellen», glaubt der Experte und ergänzt, dass der Krieg weiterhin als Abnutzungskrieg geführt werden wird. «Aber die Ukraine hat zumindest im Nordosten die Möglichkeit, sich effektiver zu wehren und die derzeit exponierte Nordfront zu stabilisieren», so Berni. Die Ukraine sei weiter in der Defensive – «und wird es auch bleiben.»