Mit westlichen Waffen Russland angreifen: Genau das fordern der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (65) Anfang Woche. Mit dieser Forderung überschreiten die beiden eine rote Linie des Westens. Kremlchef Wladimir Putin (71) ist angesichts dieser Forderung ausser sich. Blick erklärt dir, was dahintersteckt.
Was fordern Selenski und Stoltenberg konkret?
Bereits am 17. Mai forderte Selenski gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, dass westliche Waffen gegen Ziele in Russland eingesetzt werden dürfen. Am 24. Mai blies Nato-Chef Stoltenberg gegenüber dem «Economist» ins gleiche Horn. Er forderte die Nato-Staaten, die Waffen an die Ukraine liefern, dazu auf, ihr Verbot aufzuheben.
Neu wären ukrainische Angriffe auf Russland nicht, merkt Ulrich Schmid, Russland-Experte an der Uni St. Gallen, im Gespräch mit Blick an: «Seit einiger Zeit bombardiert die Ukraine Militär- und Infrastrukturziele in Russland. Bisher ist ihnen das mit eigenen Drohnen gut gelungen.» Laut eigenen Angaben wurde am Montag etwa ein Öldepot im russischen Liwny angegriffen
Wieso wird ausgerechnet jetzt darüber diskutiert?
Ein Grund ist die russische Offensive in Charkiw, erklärt Stoltenberg. Die ukrainische Stadt liegt nur rund 32 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. «Der Ukraine zu verbieten, diese Waffen gegen legitime militärische Ziele auf russischem Territorium einzusetzen, macht es ihnen sehr schwer, sich zu verteidigen», so Stoltenberg. Hinzu kommt: Beinahe das ganze Waffenarsenal der Ukraine besteht mittlerweile aus westlichen Waffen. Wenn sie sich also nicht mit diesen verteidigen dürfen, mit welchen dann?
Schmid sieht noch einen weiteren Grund: «Es geht darum, Entschlossenheit zu demonstrieren. Der Westen will deutlich machen, dass man keinen russischen Sieg in der Ukraine zulassen wird.» Denn Russland konnte in den letzten Wochen immer wieder Erfolge in der Ukraine verzeichnen – umso wichtiger also, dass der Westen ein Zeichen setzt.
Was sagen die Nato-Staaten dazu?
Immer wieder haben US-Präsident Joe Biden (81) und seine Regierung davor gewarnt, eine Eskalation zu riskieren. Es gibt jetzt Anzeichen dafür, dass die USA der Ukraine mehr Spielraum bei ihren Zielen zugestehen könnten. Nach seinem Besuch in Kiew in der vergangenen Woche soll der amerikanische Aussenminister Antony Blinken (62) in Washington dafür plädiert haben, der Ukraine zu gestatten, Militärbasen und Raketenbatterien einige Kilometer innerhalb Russlands zu treffen.
Wenige Tage zuvor erklärte der britische Aussenminister David Cameron (57), dass die Ukraine Marschflugkörper aus britischer Produktion vom Typ «Storm Shadow» verwenden darf, um Ziele in Russland zu treffen. Bereits letzte Woche kündigten einige Nato-Staaten, darunter die baltischen Nationen und Frankreich, an, militärische Ausbilder in die Ukraine zu senden. Die rote Linie, sich nicht direkt in der Ukraine einzumischen, scheint langsam zu verwischen.
Wie reagiert der Kreml?
«Die Nato erhöht den Grad der Eskalation», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (56) der russischen Tageszeitung «Iswestija» auf die Frage nach Stoltenbergs Äusserungen. «Die Nato kokettiert mit militärischer Rhetorik und verfällt in militärische Ekstase», sagte Peskow. Auf die Frage, ob die Nato auf eine direkte Konfrontation mit Russland zusteuere, sagte Peskow: «Sie nähern sich nicht an, sie sind schon dabei.»
Spielt die Nato mit dem Feuer?
Russland-Experte Schmid meint: «Der Kreml warnt immer vor einem Dritten Weltkrieg und setzt diese Warnung als Abschreckung an die Adresse westlicher Regierungen ein.» Nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (46) im Mai öffentlich über den Einsatz von Nato-Truppen in der Ukraine nachgedacht hatte, ordnete Putin Atomübungen in Belarus an. Doch abgesehen vom Säbelrasseln ist aus Russlands nuklearen Drohungen nichts geworden.
Aber: An einer direkten militärischen Auseinandersetzung sei Russland nicht interessiert, so Schmid: «Für einen direkten Angriff auf Nato-Gebiet fehlt es Russland an militärischen Ressourcen. Aber Sabotageakte im Westen könnten intensiviert werden.»