Auf einen Blick
- CDU-Migrationsvorstoss mit AfD-Stimmen sorgt für Kontroverse in Deutschland
- Merz feiert Abstimmung als Parlamentssternstunde, Kritiker sehen Dammbruch
- CDU/CSU in Umfragen bei 30 Prozent, AfD bei 22 Prozent
Das Sensorium der deutschen Öffentlichkeit ist äusserst fein gespinnt. Der «Entschliessungsantrag» über das «Zustrombegrenzungsgesetz» der CDU ist nicht rechtlich bindend, er zwingt die Regierung zu keiner Handlung. Inhaltlich liegt das Ansinnen im Prinzip ganz auf Linie der bürgerlichen Parteien Europas, es fordert ein «faktisches Einreiseverbot» für Personen ohne gültige Dokumente sowie die «Zurückweisung ausnahmslos aller Versuche illegaler Einreise» an der deutschen Grenze.
Der Stein des Anstosses ist ein anderer. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (69) verliess sich bei seinem Vorstoss auf die Stimmen der AfD. Das ist der Dammbruch, eine regelrechte Ketzerei im innerdeutschen politischen Gefüge. Kritiker von links bis tief ins bürgerliche deutsche Milieu hinein werfen Merz den Angriff auf die «Brandmauer» vor, jener ideellen Bruchlinie zwischen den herkömmlichen politischen Kräften und der AfD, einer rechtspopulistischen Partei mit manchen durchaus völkisch ausgerichteten Mitgliedern und Ablegern in Bundesländern, die teils als rechtsextrem eingestuft werden.
Knallhart-Rhetorik
Merz selber feiert die Abstimmung als «Sternstunde des Parlaments». Einst für seinen Spruch über die «deutsche Leitkultur» verspottet und von Angela Merkel (70) auf dem Weg zur Macht ausgebootet, setzt dieser Mann heute an, um die Deutschen mit Knallhart-Rhetorik auf einen neuen Migrationskurs einzustimmen. Für besondere Aufregung sorgte seine Aussage im Parlament von «täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Milieu der Asylbewerber heraus». Das Erbe seiner Intimfeindin Merkel, die «Willkommenskultur», will Schweiz-Freund Merz auslöschen.
Die Gegner lassen kein gutes Haar an ihm. «Wie Friedrich Merz der AfD die Tür zur Macht öffnete», schreibt der Spiegel. Und SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius (64) nannte Merz’ Vorgehen einen «Jammer für die Union» und einen «Schaden für die gesamte Demokratie». Vor der Parteizentrale der CDU wurden Mahnwachen «gegen rechts» organisiert.
Bis zur Bundestagswahl am 23. Februar dauert es noch drei Wochen. Und die Nerven liegen blank – Merz hat SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (61) wegen dessen «Nazi-Keule» die Freundschaft gekündigt, AfD-Chefin und Wahl-Schweizerin Alice Weidel (45) verbreitet im Stil von US-Präsident Donald Trump (78) kindische AI-Videos, die Merz als «Starwars»-Bösewicht «Darth Merz» zeigen. Und wieder einmal wird vor der Wiederkehr eines neuen «1933» gewarnt, dem Jahr, an dem die Nationalsozialisten an die Macht kamen.
Junge Demokratie
Die Hysterie auf beiden Seiten legt die Abgründe einer Gesellschaft offen, die sich erst in der dritten Generation nach Hitler befindet. Deutschland ist eine vergleichsweise junge Demokratie; hierzulande wäre das keine Randnotiz wert, wenn ein politischer Vorstoss aus der Mitte von der SVP unterstützt wird. Ebenso verwunderlich ist von aussen, dass die deutsche Seele derzeit vor allem über die Brandmauer statt über den sachpolitischen Inhalt der Migrationsproblematik streitet. Der Anschlag im fränkischen Aschaffenburg, bei dem ein ausreisepflichtiger Afghane zwei Personen ermordet hatte, ist noch keine zwei Wochen her.
Anders im Land der Dichter und Denker, wo soeben 80 Jahre der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz gedacht wurde. Das Trauma der Täternation hallt nach.
Ob sich «German Angst» dereinst überwinden lässt, ist ebenso offen wie die Frage, ob das Manöver der CDU mit dem Migrationsvorstoss der Partei bei den Wahlen schaden oder nützen wird. Im Sonntagstrend des Instituts Insa für die «Bild am Sonntag» kommen CDU/CSU wie in anderen Umfragen dieser Tage unverändert auf 30 Prozent. Die Befragung sieht Gewinne für die SPD (17 Prozent, plus 1), die zuletzt bei 15 bis 16 Prozent stand, und für die AfD (22 Prozent, plus 1).
Wird Merz mit seinem Kurs bloss der AfD helfen, wie seine Kritiker monieren? Oder wird er als jener Spitzenpolitiker in die bundesdeutsche Geschichte eingehen, der die migrationspolitische Zeitenwende eingeläutet hat? In drei Wochen ist Wahltag – und Zahltag.