«Kritisch und chaotisch» – so beschreiben ukrainische Soldaten vor Ort und Offiziere sowie internationale Experten die Lage in Awdijiwka, einer ukrainischen Stadt nordwestlich von Donezk. «Schwierig» sei die Situation, heisst es am Samstag auch aus Kiew. Zwar ist die Stadt – oder was davon übrig ist – noch unter ukrainischer Kontrolle. Doch: Wie lange es die ukrainischen Truppen noch schaffen, sich gegen die russische Armee durchzusetzen, ist unklar.
Das ukrainische Analyseprojekt «Deep State» verzeichnete in den letzten Tagen eine Reihe erfolgreicher russischer Vorstösse. Die Russen kontrollieren bereits einen Teil des Eisenbahnnetzes rund um die Stadt. Die Analysten gehen davon aus, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die russischen Truppen die Hauptversorgungsrouten in die Stadt kappen. Für die rund 1000 Zivilisten, die sich noch immer in der Stadt befinden, wäre das fatal.
Russen kämpfen verbissen um Awdijiwka
Auch für die ukrainische Militärführung wäre der Verlust von Awdijiwka schmerzhaft. Beide Seiten betrachten die Stadt als Schlüssel für Russlands Ziel, die vollständige Kontrolle über die beiden östlichen Donbass-Provinzen – Luhansk und Donezk – zu erlangen. Zudem gilt Awdijiwka als Tor zur Stadt Donezk, die nur 15 Kilometer entfernt liegt.
Doch für die Ukraine steht noch viel mehr auf dem Spiel, schreibt Ukraine-Experte Nico Lange (48) auf X: «Mit erfolgreichen Angriffen bis nach Kupjansk würde Russland die Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive von 2022 umkehren und auch wieder in die Oblast Charkiw eindringen, obwohl angeblich nur die vier theoretisch annektierten Oblaste verteidigt werden sollen.»
Wer also Awdijiwka kontrolliert, kontrolliert, zumindest symbolisch, den Osten der Ukraine. Das scheint für beide Seiten den hohen Blutzoll zu rechtfertigen. «Jeden Tag gibt es neue Kämpfe, unabhängig vom Wetter, unabhängig von allem – auch von Verlusten», sagte ein Mitglied der 47. separaten mechanisierten Brigade der Ukraine gegenüber «Radio Liberty» über die Awdijiwka-Offensive Russlands. «Sie gehen buchstäblich über Leichen – die Leichen ihrer eigenen Leute.»
Wird Awdijiwka zum neuen Bachmut?
Awdijiwka hat bereits eine ähnlich hohe symbolische Bedeutung erlangt wie Bachmut vor rund einem Jahr. In der neunmonatigen, erschöpfenden Schlacht um die Stadt im Osten des Landes opferte die Ukraine einige ihrer fähigsten Kämpfer angesichts der unerbittlichen Angriffe der russischen Angreifer. Am Ende waren die Russen den Ukrainern jedoch zahlenmässig überlegen und zwangen sie, sich zurückzuziehen.
Allerdings gibt es signifikante Unterschiede zwischen dem Verlauf der Schlacht um Awdijiwka und den Ereignissen in Bachmut. Das zumindest sagt ein anonymer hochrangiger Offizier der Ukraine gegenüber «Politico»: In Bachmut setzten die Russen schlecht ausgebildete ehemalige Gefangene und Söldner der Wagner-Gruppe ein. Doch inzwischen scheint sich die russische Armee dank Rekrutierungsoffensiven personell wieder erholt zu haben. In Awdijiwka, sagt der Offizier, arbeite Russland mit «gut ausgeruhten und ausgebildeten» Berufssoldaten.
Für die Ukraine hingegen sieht es schlecht aus. Es fehlt an militärischem Personal. Denn die ukrainische Regierung ist nicht in der Lage, ein Mobilisierungsgesetz zu verabschieden, welches das Wehrpflichtalter erhöhen könnte. Erschwerend kommt hinzu, dass das politische Kräftmessen in Washington in Bezug auf das Ukraine-Hilfspaket zu extremen Ausrüstungs- und Munitionsengpässen führt.
Die Kombination dieser Faktoren ermöglicht es den Russen, Meter um blutigen Meter Risse in die hart umkämpfte Frontlinie zu reissen. Experte Lange schreibt: «Die Lage an der Front im Osten ist für die Ukraine die schlechteste seit der kritischen Phase zwischen April und Juni 2022.»