Mychajlo Podoljak, denken Sie, Jewgeni Prigoschin ist wirklich tot?
Podoljak: Natürlich müssen wir noch die entsprechenden Untersuchungen abwarten. Wir haben es schliesslich mit Russland zu tun. Im Moment liegen mir nur Informationen aus den Medien vor. Keine der Leichen an Bord des Flugzeugs ist bisher offiziell identifiziert worden. Aber ich persönlich glaube, dass Prigoschin getötet wurde.
Wieso musste Prigoschin sterben?
Er hat Putin als extrem feige Person erscheinen lassen, die schnell vor Entscheidungen davonläuft. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis Prigoschin vernichtet werden würde. Es handelt sich um einen ganz gezielten Mord. Putin brauchte die demonstrative Hinrichtung seines grössten Kritikers, um jeden einzuschüchtern, der eine andere Meinung vertritt. Auf diese Weise glaubt der russische Präsident, die Kontrolle über die Eliten zurückgewinnen zu können, die ihrerseits zunehmend an ihrem Präsidenten zweifeln.
Könnte Prigoschin seinen Tod vorgetäuscht haben, um zu entkommen?
Das bezweifle ich sehr. Prigoschin war ein Medienmensch und hätte daher seinen gewohnten Lebensstil und die öffentliche Aufmerksamkeit nicht aufgeben wollen. Ausserdem hatte er gewisse politische Ambitionen. Das ist die eine Seite. Andererseits ist die Wagner-Miliz ein riesiges Unternehmen, und es ist unwahrscheinlich, dass Prigoschin und vor allem Wagners eigentlicher Leiter Dmitri Utkin bereit waren, das Einzige aufzugeben, was ihrem Leben einen Sinn gab. Wenn sich ausserdem herausstellen sollte, und das würde es mit Sicherheit, dass die ganze Sache eine spektakuläre Inszenierung war, würde das Putin völlig aushebeln. Im wahrsten Sinne des Wortes. Warum sollte der russische Präsident selbst das tun wollen?
In unmittelbarer Nähe war auch noch ein zweites Flugzeug unterwegs. Wer könnte darin gesessen haben?
Die Partner von Prigoschin. Denn laut Protokoll sollte niemand wissen, in welchem der beiden Flugzeuge Prigoschin sass. Aber warten wir noch ein wenig ab. In der Zwischenzeit können wir getrost sagen, dass die Täter des Wagner-Attentats genau wussten, wer sich in den Flugzeugen befand, was auf eine gründliche und durchdachte Vorbereitung hindeutet.
Hat sich der Absturz auf den Krieg in der Ukraine ausgewirkt?
Nein. Erstens war Prigoschin in dieser Phase des Krieges nicht direkt in die Kämpfe in der Ukraine involviert. Zweitens hat Russland seine Taktik geändert. Sie haben keine professionellen Einheiten, sondern mobilisieren eine grosse Anzahl unausgebildeter Soldaten, die leicht ersetzt werden können. Deshalb reagiert die Ukraine eher zurückhaltend, da solche inneren Unruhen in Russland den Verlauf der Kämpfe in der Ukraine nicht direkt beeinflussen. Die ukrainische Militärführung agiert im Rahmen von entwickelten Szenarien und Strategien. Prigoschin spielt schon lange keine einflussreiche Rolle mehr. Für die Ukraine ist dies lediglich eine Liquidierung einer der grössten Kriegsverbrecher des 21. Jahrhunderts.
Wird es noch mehr Liquidierungen unerwünschter Personen geben? Wer steht alles auf Putins Liste?
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Risiken von Eliten, zu sterben, erheblich gestiegen sind. Denn: Putin ist in einem extrem emotionalen Zustand. Er verdächtigt jeden. Vor den Wahlen 2024 versucht Putin den Eliten zu zeigen, dass sie Angst vor ihm haben müssen, dass er die Kontrolle hat und dass er wieder im Spiel ist. Doch das ist ein Trugschluss. Der Mord an Prigoschin zeigt, dass Putin Angst vor der Elite hat. Als Nächstes wird wahrscheinlich Prigoschin und Utkins innerer Kreis zerstört werden. Zum Beispiel der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Misinzew. Er wurde vor sechs Monaten Utkins Stellvertreter.
Wie geht es weiter mit der Wagner-Gruppe?
Sie wird vernichtet werden, weil die Gruppe Putin absolut Angst macht. Und weil die Führung bereits vernichtet worden ist. Es ist klar, dass einige der überlebenden Wagner-Kämpfer einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium unterzeichnen werden. Einige werden verhaftet werden. Einige werden verschwinden. Aber so oder so braucht der russische Staat eine lebende Entbehrlichkeit, um das Personal der russischen Militärgruppen aufzufüllen. Aber nicht als unabhängige Gruppe.