Am Mittwoch kam Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin (†62) bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Die Maschine war auf dem Weg von St. Petersburg nach Moskau, als sie in einen dramatischen Sinkflug geriet und in der russischen Region Twer abstürzte. Seither machen viele Theorien die Runde: War Prigoschin wirklich an Bord der Maschine, welche Rolle spielt Putin, und wie geht es nun weiter mit der Wagner-Gruppe? Ulrich Schmid (57), Professor für russische Kultur und Gesellschaft an der Universität St. Gallen, schätzt die Ereignisse der letzten Stunden ein.
War Prigoschin wirklich an Bord der Unglücksmaschine?
Die Informationen zum Absturz des Embraer-Jets gehen weit auseinander. Die Aussagen sind zum Teil sehr widersprüchlich. Deshalb sei diese Frage nicht abschliessend zu beantworten. Schmid kann sich aber durchaus vorstellen, dass Jewgeni Prigoschin tot ist. Ein Absturz aufgrund eines technischen Problems, wie es in der Version des russischen Staatsfernsehens heisst, schliesst der Experte hingegen aus.
Warum könnte Russland ein Flugzeugabsturz als Hinrichtungsmethode gewählt haben?
Das offizielle Russland habe laut Schmid ein grosses Interesse daran, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass man die Handlungsfähigkeit wieder an sich gerissen hat. Prigoschins Putsch-Versuch vom Juni schwächte die Autorität des russischen Präsidenten Wladimir Putin (70) entscheidend. Putin sei nun bestrebt, seine eigene Position wieder zu festigen. Normalerweise werden Gegner des russischen Regimes eher durch Vergiftungen ausgeschaltet. «Ein Flugzeugabsturz ist auf jeden Fall eine spektakuläre Hinrichtungsmethode», so Schmid. Das Ziel sei aber an und für sich dasselbe: Verräter sollen aus dem Weg geschaffen werden.
Ulrich Schmid (57) leitet den Fachbereich Osteuropastudien an der Universität St. Gallen. Er studierte Slawistik, Germanistik und Politologie an den Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad. Heute gehört Schmid zu den renommiertesten Russland-Kennern der Schweiz.
Ulrich Schmid (57) leitet den Fachbereich Osteuropastudien an der Universität St. Gallen. Er studierte Slawistik, Germanistik und Politologie an den Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad. Heute gehört Schmid zu den renommiertesten Russland-Kennern der Schweiz.
Wie lässt sich der Zeitpunkt des Absturzes erklären?
«Es ist erstaunlich, dass Prigoschin nach seinem Aufstand noch zwei Monate überlebt hat», meint der Professor. Zunächst sah es so aus, als ob Putin Prigoschin seine Meuterei vergeben hat. So hat er sich wenige Tage nach dem versuchten Aufstand mit Prigoschin im Kreml getroffen und sich gesprächsbereit gezeigt. Doch das scheint alles nur Show gewesen zu sein. «Es ist klar geworden», erklärt Schmid, «dass Verrat öffentlichkeitswirksam bestraft wird».
Wie reagiert Putin?
Der russische Präsident sprach in einer Fernsehansprache den Familien der Toten sein Beileid aus und beschrieb den Gründer der Wagner-Gruppe als «talentierten Geschäftsmann». Ermittler würden den Vorfall untersuchen – aber das werde Zeit brauchen. Er teilte mit, er sei am Donnerstagmorgen über den Flugzeugabsturz am Mittwoch informiert worden. «Ich kenne Prigoschin schon lange, seit Anfang der 1990er Jahre», so Putin weiter. In einer offensichtlichen Anspielung auf Wagners gescheiterte Meuterei im Juni fuhr der Kremlchef fort: «Dies war ein Mensch mit einem komplizierten Schicksal, und er machte schwere Fehler im Leben, versuchte aber auch, die notwendigen Ergebnisse zu erzielen – sowohl für sich selbst als auch in Zeiten, in denen ich ihn darum gebeten habe, für die gemeinsame Sache, wie in diesen letzten Monaten.»
Wird Putin jetzt noch stärker?
Spätestens seit dem versuchten Aufstand der Wagner-Gruppe steht Putin mit dem Rücken zur Wand. Das Misstrauen in den eigenen Reihen ist gross. Gleichzeitig zu der Nachricht über Prigoschins Tod wurde bekannt, dass der ehemalige General und Oberkommandant der russischen Armee in der Ukraine Sergej Surowikin (56) seines Amtes enthoben wurde. Dies würde laut Schmid darauf hinweisen, dass Putin seine Autorität noch nicht zu 100 Prozent zurückgewonnen hat.
Welche Konsequenzen hat Prigoschins mutmasslicher Tod?
Der Kreml wollte der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit zeigen, dass man keine Verräter dulde, glaubt der Russland-Experte. Doch Prigoschins Tod bedeute in einer gewissen Dimension auch einen Verlust für den Kreml. Denn: Der Wagner-Anführer hatte mit seinen Truppen bedeutende militärische Erfolge in der Ukraine vorzuweisen. So konnte die russische Armee seinetwegen die Stadt Bachmut komplett einnehmen. Ausserdem hat Prigoschin in Afrika für russische Präsenz gesorgt – ein Kontinent, der für Putin und sein Regime sehr wichtig zu sein scheint.
Für die Wagner-Gruppe ist Prigoschins Tod schwer hinzunehmen. Neben dem Anführer sassen noch sechs weitere Verbündete Prigoschins im Todesflieger. Der 62-Jährige sei bei seinen Söldnern sehr beliebt gewesen, erklärt Schmid. Es werde also definitiv Kollateralschäden geben. «Gleichzeitig beobachtet man immer wieder Versuche des russischen Verteidigungsministeriums, Wagner-Söldner für die eigenen Reihen abzuwerben.» (ene)