Nach der erfolgreichen Gegenoffensive haben die Ukrainer im Kampf gegen Wladimir Putins (69) Armee das Momentum auf ihrer Seite – und sind dabei optimistisch. Das gibt auch Olexij Arestowytsch (47) zu verstehen. Er ist einer der engsten Militärberater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44). Im Interview mit «Bild» sagt er: «Ich denke, der Krieg wird nicht länger als bis zum Sommer 2023 dauern.»
Kremlchef Putin mobilisiert nach eigenen Angaben rund 300'000 Reservisten, um gegen die Ukraine zu kämpfen. Zudem drohte er erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen. Versetzen diese Massnahmen die Ukrainer in Schrecken? Gemäss Arestowytsch eher nicht: «Ich sehe keine Gewinnstrategie für Putin.»
Atomwaffen-Drohung: Nur ein Bluff
In den Gebieten, die Putin nun annektieren will, seien die ukrainischen Streitkräfte weiterhin in der Offensive. In der Region Cherson operiere man derzeit viel mit Langstreckenartillerie, berichtet Arestowytsch. In Charkiw und Donezk habe man die Stadt Liman im Fokus. «Wir setzen dort unsere Offensive fort und haben die russischen Streitkräfte fast eingekesselt», sagt Arestowytsch. Auch bei Bachmut habe man den Angriff der Russen gestoppt.
Arestowytsch rechnet damit, dass Putin nach der Annexion, die am Freitag erfolgen soll, eine Menge Truppen zur Verteidigung der Gebiete schicken werde. Die Drohung mit taktischen Atomwaffen hingegen halte er für einen Bluff: «Sie wollen uns Angst einjagen und Verhandlungen beginnen», sagt Arestowytsch zur «Bild».
«Profiboxer gegen Schuljunge»
Für den Selenski-Berater ist klar, dass Putin in erster Linie mit der einer hohen Menge an Soldaten, die er jetzt in die Ukraine schickt, auftrumpfen will. Angesichts der mobilisierten Soldaten zeigt sich Arestowytsch siegessicher: «Die Vernichtung dieser mobilisierten Kräfte wird uns nicht schwerfallen.»
Die neuen Soldaten seien kaum ausgebildet und schlecht ausgerüstet. Auf dem Schlachtfeld sei es so, «als würde ein Profiboxer gegen einen Schuljungen kämpfen». Einige der Reservisten-Soldaten seien bereits in der Region Charkiw – und haben laut Arestowytsch dort schon ihr Leben gelassen. Gemäss seiner Schätzung habe die ukrainische Armee schon «Dutzende von ihnen» getötet.
Reservisten-Soldat nach sechs Tagen geschnappt
Auch der ukrainische Militärexperte und Armeeangehörige Oleh Schdanow (56) sieht mehr Schwächen als Vorteile in Putins Teilmobilmachung, wie er Blick erklärt. «Aus militärischer Sicht bin ich davon ausgegangen, dass die erste Welle mobilisierter Russen innerhalb von zwei Wochen an der Front erscheinen könnte.» Damit habe ein Soldat genug Zeit, um zumindest die Grundlagen aufzufrischen.
Das sei aber nicht der Fall gewesen, berichtet Schdanow: «Russland hat unlogisch gehandelt. Die ersten mobilisierten Soldaten waren drei Tage nach Putins Ankündigung bereits an der Front.» Das habe schon zu einer erstaunlichen Gefangennahme geführt: Die ukrainischen Truppen haben einen Mann aus Moskau geschnappt – nur sechs Tage, nachdem er seine Einberufung erhalten hatte. «Sechs Tage!», betont Schdanow. «Und er hat sich schon ergeben.»
Dennoch mache sich die ukrainische Armee für einen grösseren Ansturm bereit. Auch wenn die Neulinge auf dem Schlachtfeld nicht gut trainiert seien, wolle man sie nicht unterschätzen, sagt Schdanow gegenüber Blick. Vor allem eine zahlenmässige Überlegenheit könne zur Herausforderung werden. Gemäss Schdanow dauere es noch mindestens zwei Wochen, bis die erste grosse Welle an neuen Soldaten aus Russland ausrückt.
Ukraine kann weitere Soldaten mobilisieren
Nicht nur Putin kann die Zahl seiner Streitkräfte erhöhen. Die Ukraine könne das prinzipiell auch, erklärt Militärexperte Schdanow: «Wir haben aktuell etwa 900'000 Angehörige der Sicherheits- und Verteidigungskräfte, die im bewaffneten Einsatz sind. Wir sind jetzt in der Lage, etwa dieselbe Menge an Menschen zusätzlich zu mobilisieren.»
Man aktiviere diese Leute aber derzeit nicht für den Dienst. Warum nicht? «Weil wir nicht genug Waffen haben», sagt Schdanow. «Sollen sie in den Ausbildungszentren sitzen und einfach nur warten, bis eine russische Rakete einschlägt?» Darauf will Schdanow lieber verzichten. «Hätten wir aber genug schwere Waffen, könnten wir zusätzliche Brigaden bilden.» Zusätzliche Waffen könnten die ukrainische Gegenoffensive jetzt extrem beflügeln, glaubt Schdanow: «Damit könnten wir heute alle ukrainischen Gebiete befreien – auch die Krim und den Donbass.»