Seit Wochen wird der Beginn der grossen Gegenoffensive der Ukrainer erwartet. Am Mittwochabend machte Mychajlo Podoljak (51), der Berater von Ukraine-Präsident Wolodimir Selenski (45), eine überraschende Aussage im italienischen Fernsehen: «Die Gegenoffensive läuft schon seit Tagen.»
Weiter sagte Podoljak: «Dies ist ein intensiver Krieg entlang einer Grenze von 1500 Kilometern. Unsere Aktionen haben bereits begonnen.» Selenski selbst hat sich noch nicht dazu geäussert.
Auf der ganzen Welt hatte man damit gerechnet, dass die Ukraine ihre Gegenoffensive mit einem wahren Feuerwerk gegen die russischen Invasoren einläuten würde. Das scheint nicht passiert zu sein. Podoljak stichelte am Donnerstag auf Twitter: «Es handelt sich nicht um eine einmalige Aktion, die zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Tag mit dem feierlichen Durchschneiden des roten Bandes beginnt.»
Tödliche Waffen eingetroffen
Anzeichen, dass eine Gegenoffensive kurz bevorsteht oder begonnen hat, haben sich in den letzten Wochen gehäuft. Einerseits kommen immer mehr wichtige Waffenlieferungen aus dem Westen, darunter die britisch-französischen Langstreckenraketen «Storm Shadow», in der Ukraine an. Zudem strömen auch frisch ausgebildete ukrainische Soldaten an die Front.
In den letzten 24 Stunden wurden zudem 40 russische Artilleriegeschütze durch ukrainische Treffer zerstört – laut der Beobachtungsgruppe uacontrolmap fast ein Rekord für den gesamten Krieg.
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Dieses «vorbereitende Feuer» gehöre zum Beginn einer Offensive dazu, wie Marcel Berni (34), Strategieexperte an der ETH-Militärakademie, erklärt: «Die Ukraine arbeitet daran, künftige territoriale Vorstossoptionen zu erleichtern. Der Zweck der jetzigen Phase besteht darin, den Gegner zu schwächen, zu täuschen und zu verwirren.»
Eines der aktuellen Ziele dieser Phase sei die Überforderung des russischen Militärs. Dadurch sollen Lücken entstehen, die das ukrainische Militär für Vorstösse nutzen könne.
Angriff in Richtung Krim
Danach folge die zweite und dritte Phase, so Berni. «In der zweiten Phase, die noch nicht begonnen hat, soll dann ein Durchbruch leichter fallen. In der dritten Phase wird das gewonnene Gelände kontrolliert und verteidigt.» Die Richtung, in welche die ukrainischen Truppen vorstossen wollen, steht für Experten bereits seit Anfang Mai fest, wie an lokalen Offensiven beobachtet werden kann: Es geht in den Süden.
Mick Ryan, pensionierter Generalmajor der australischen Armee, vermutet: Saporischschja wird im Mittelpunkt einer ukrainischen Gegenoffensive stehen. Auch Ian Matveev, ein russischer Militäranalyst, bezeichnet Saporischschja als einen Schlüsselpunkt für das ukrainische Militär.
Falls die Oblast mehrheitlich wieder in ukrainischer Hand kommt, könnten die Truppen weiter nach Melitopol vorzudringen. Von dort aus, so Matveev, könnte die Ukraine eine Offensive in Richtung Krim starten – der Halbinsel, mit deren Besetzung der militärische Ukraine-Konflikt 2014 begonnen hat.