In diesem Keller lebt Christina (31) mit ihren Kindern
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«Tag fühlt sich wie Woche an»:In diesem Keller lebt Christina (31) mit ihren Kindern

Seit fünf Monaten harrt die Ukrainerin Christina (31) mit ihren drei Kindern in einem Kellerverlies aus
«Alles egal – Hauptsache, keine Bomben mehr»

Sie haben alles verloren – und ihr Heimatland trotzdem nicht verlassen: Millionen vertriebene Menschen harren unter prekären Bedingungen im Kriegsland Ukraine aus. Dass ihnen in der Schweiz und in anderen Ländern geholfen würde, daran glauben sie nicht.
Publiziert: 03.09.2022 um 20:58 Uhr
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Aktualisiert: 03.09.2022 um 22:20 Uhr
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Christina (31, links) versteckt sich seit April mit ihren drei Töchtern Maia (2), Sophia (4) und Darina (8) in einem Keller in der Frontstadt Toretsk. Eine Nachbarin hilft ihr manchmal mit den Kindern.
Foto: Samuel Schumacher
Samuel Schumacher

Wenn die Bomben fallen und draussen der grausame Krach wieder losgeht, dann ziehen sich Sophia (4) und ihre beiden Schwestern Darina (8) und Maia (2) einfach die Decke über den Kopf. Sie warten, bis es wieder ruhig wird. Dann holt sie ihre Mutter Christina (31) wieder unter der Decke hervor – und der Alltag an diesem dunklen Ort geht weiter.

«Schlafen, Essen, Schlafen – und Beten zu Gott, dass er uns endlich hilft»: So vertreibt sie sich die Zeit, sagt Christina zu Blick. Seit April versteckt sie sich mit ihren drei kleinen Mädchen vor dem Krieg hier in diesem fensterlosen Keller unter einem Wohnblock am Rand der Bergwerkstadt Toretsk. Die Kriegsfront ist nur wenige Kilometer entfernt, Toretsk in weiten Teilen zerstört.

Christina hat hier bis zum 24. Februar als Coiffeuse gearbeitet. Dann gingen die Angriffe los. Christinas Wohnung wurde zerstört. Die alleinerziehende Mutter floh mit den drei Töchtern. Doch auch ihr Zufluchtsort wurde kurz darauf von einer Granate getroffen.

Hilfe in der Schweiz? «Glaube ich dir nicht»

Christina packte ihre Kinder und ihre wenigen Sachen erneut. Ihr Chef bot ihr ein Zimmer an. Doch Christina sagte, sie wolle nur noch in den Keller, unter die Erde, unter dicken Beton. Aus ihrem Versteck wagt sich die Familie nur, um bei den Nachbarn im Parterre aufs WC zu gehen, oder sich rasch etwas zu Essen zu holen.

Sonne? Wärme? Frische Luft? Der Spielplatz vor dem Haus? «Alles egal. Hauptsache, keine Bomben mehr», erzählt die abgemagerte junge Frau und starrt ins Leere. Zwei Taschenlampen werfen grelles Licht ins Kellergewölbe. Aufrecht stehen können hier nur Christinas Mädchen.

Der Boden ist ausgelegt mit dreckigen Teppichen, Leitungsrohre ziehen sich quer durch den Raum, in der Ecke liegt eine grosse Matratze. Daneben ein Stuhl mit ein paar Kinderkleidern. Die Luft ist abgestanden und feucht. Jede Gefängniszelle in Europa wäre purer Luxus gegen das Verlies, in dem sich Christina mit ihren Kindern vor dem Krieg versteckt.

Doch weg will Christina nicht. Die Ukraine verlassen? Ins Ausland gehen? Niemals! «Wer soll uns da schon helfen?», fragt sie. Als der Blick-Reporter ihr erzählt, dass Millionen von Ukrainern in anderen Ländern aufgenommen worden sind, dass sie finanzielle Hilfe erhalten und ihre Töchter in die Schule schicken könnte, wendet sie sich ab. «Das glaube ich dir nicht.»

Jeder vierte Ukrainer hat seine Heimat verloren

Menschen wie Christina gibt es viele in der Ukraine. 13 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer mussten ihre Heimat wegen des Krieges laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR verlassen. Mehr als die Hälfte davon – rund 7,1 Millionen – haben die Landesgrenzen jedoch gar nie überschritten und harren in der Ukraine aus.

Diese sogenannten Binnenflüchtlinge gehören zu den oft vergessenen Hauptleidtragenden in diesem Krieg. Sie haben mit riesigen Problemen zu kämpfen.

Problem Nummer 1: Besonders jene, die aus dem schwer getroffenen Osten des Landes fliehen müssen, sprechen oft nur Russisch. In der Westukraine wirft man ihnen deswegen fälschlicherweise vor, pro-russisch zu sein.

Problem Nummer 2: Ihre oft sehr geringen Ersparnisse reichen nicht, um sich fern ihrer Herkunftsorte ohne Einkünfte und ohne soziales Netz über Wasser zu halten.

Problem Nummer 3: Viele Ukrainer sind sehr heimatverbunden und wenig reiseerfahren. Gegen das Heimweh kennen sie kein Mittel.

Die gefährliche Folge: Viele Binnenflüchtlinge kehren trotz der grossen Gefahr bereits jetzt wieder in ihre kriegszerrütteten Städte und Dörfer zurück. Das bestätigt Oleksander Gontscharenko (47), Bürgermeister der Donbass-Stadt Kramatorsk. Anfang August sagte er im Gespräch mit Blick: «Tausende, die aus der Gefahrenzone geflüchtet sind, sind bereits wieder hier. Sobald sie an einen fremden Ort gelangen, sind sie auf die eigenen Ersparnisse angewiesen. In ihrer Heimatstadt erhalten die Einwohner wenigstens humanitäre Hilfe.» Das Grundproblem sei, dass viele Orte auch weiter westlich in der Ukraine wirtschaftlich zu kämpfen haben. Für die ungebetenen Neuankömmlinge aus dem Osten bleiben oft nur wenige Ressourcen übrig.

160 Franken zahlt die Ukraine der Familie – pro Monat

Die Wädenswilerin Eva Samoylenko-Niederer (41), die im Donbass bis zum Kriegsausbruch ein Kinderheim betrieben hat und mit ihrer Familie bis heute als Binnengeflüchtete in der Westukraine ausharrt, sagt: «Die magere staatliche Unterstützung reicht für viele geflohene Familien schlicht nicht aus. Enttäuscht und verzweifelt kehren sie in ihre halb zerstörten Städte zurück, wo sie vielen Gefahren ausgesetzt sind.» Mit ihrem Hilfswerk «Segel der Hoffnung» versucht Samoylenko-Niederer, das Leid dieser Menschen zu lindern. «Doch unsere Ressourcen werden knapp, auch wenn die Not riesig bleibt.»

Christina hat gelernt, mit der Not zu leben. 6000 Griwna – umgerechnet 160 Franken – erhält sie monatlich vom Staat für sich und ihre drei Töchter. Das reicht selbst in der bitterarmen Ostukraine nicht, um zu überleben. Die junge Mutter aber zuckt nur die Schultern. Als der Besuch aus der Schweiz nach einer knappen Stunde wieder über die Abwasserrohre und durch das kleine Eingangsloch aus ihrem Verlies hinausklettert, sagt Christina: «Bitte passt auf, dass in eurem Land nicht das passiert, was uns passiert ist. Es ist schlimm.»

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