«Wenn jede Nacht die letzte sein könnte, wird Wodka getrunken»
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Blick-Reporter im Donbass:«Willst du Blut sehen? Nein!»

Blick bei den Donbass-Kämpfern
Fünf Schüsse «für die Schweinehunde»

Die 79. Brigade stellt sich im Donbass Putins Truppen in den Weg. Blick war live dabei bei einem ukrainischen Angriff auf die russischen Stellungen. Ein exklusiver Einblick ins Leben und die Methoden der ukrainischen Front-Kämpfer.
Publiziert: 20.08.2022 um 06:27 Uhr
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Aktualisiert: 20.08.2022 um 14:48 Uhr
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Die Soldaten der 79. Brigade kämpfen seit Monaten an der Donbass-Front.
Foto: Samuel Schumacher
Samuel Schumacher (Text) und Stefan Graf (Video)

Seit drei Stunden liegt Vitali (38) im Laub des Eichenwäldchens direkt an der Donbass-Front. Er spielt mit seinem Messer, schaut stahlgrau in den Sommerhimmel. Aus der Ferne tönt das Donnergrollen der Artillerie, Vitali wirkt seelenruhig. Doch dann, um 08:23 Uhr, plötzlich helle Aufregung. «Wir haben was, los!», ruft Kommandant Pavlovic (52) vom Waldrand her.

Die Männer der 79. Brigade der ukrainischen Armee springen aus dem Unterholz, Vitali zieht Helm und Handschuhe an, ein monströser Lastwagen mit Raketengeschütz rollt auf das Feld vor dem Eichenwäldchen. Dieselgestank, Gedröhn, und Vitali dreht blitzschnell am Einstellrad des Geschützes. Pavlovic gibt ihm die Koordinaten durch, Vitali kontrolliert seine Einstellung. Daumen hoch, Blick zurück, der Kommandant nickt ab.

Kurze Ruhe. Dann zerreissen gewaltige Schüsse den Sommermorgen. Fünf Raketen schleudert das Geschütze in Richtung der russischen Stellungen auf der anderen Seite des Tals. «Treffer!», ruft Pavlovic, der Kommandant der 79. Brigade. In 19,7 Kilometer Entfernung haben Vitalis Raketen eine russische Stellung getroffen. Das bestätigt die ukrainische Luftüberwachung per Telefon. Wie viele Tote? «Zu wenige», sagt Pavlovic. Sein Sohn sitzt drüben im russischen Knast. Kriegsgefangener. Pavlovic zieht seine Eulenbrauen hoch, schaut streng in die Ferne. «Ich hasse die Russen», sagt er, diese «Svynosobaky», diese Schweinehunde. Auf seinem Tablet hat er ihre Stellungen eingezeichnet: mit farbigen Kreuzen und manchmal mit Affen-Smileys.

Der Profi-Killer schafft 20 Raketen in 20 Sekunden

Der Raketenwerfer rollt zurück in sein buschiges Versteck, das Brummen verstummt. BM-21 heisst das Waffensystem, das die Sowjets in den 1950ern erstmals auf den Markt brachten und das in der Ukraine alle nur «Grad» nennen. Die altbewährte Tötungsmaschine kommt heute auf beiden Seiten des Ukraine-Krieges zum Einsatz. Russen schiessen mit ihnen auf Ukrainer, Ukrainer schiessen mit ihr auf Russen. Ein mörderisches Hin und Her.

Einen Meter lang und 100 Kilo schwer ist jede der 40 Raketen auf seinem getarnten Buckel. Auf manchen sind die Initialen von gefallenen Kameraden gekritzelt, die Namen von verlorenen Städten. Jede Rakete ein Racheakt, jeder Treffer ein kleiner Sieg. Und kaum einer trifft besser als Vitali, der Scharfschütze aus dem Eichenwald. 16 Schüsse in 20 Sekunden schafft die Automatik-Einstellung der Grad. Vitali schafft 20 Schüsse in 20 Sekunden. Er ist ein Meister seines Fachs, ein Profi-Killer, für die Ukrainer ein Held.

Es ist das erste Mal, dass sich ein deutschsprachiger Journalist hierhin zu den Kämpfern der 79. Brigade an der Donbass-Front wagt. Die Reise ist extrem gefährlich. Von der letzten Stadt unter ukrainischer Kontrolle fahren wir eine gute Stunde lang über matschige Pisten querfeldein durch die Nacht, ohne Licht, damit die russischen Späher uns nicht sehen. Unsere Handys sind auf Flugmodus, damit sie von russischen Trackern nicht geortet werden können. Am Horizont flimmert das Inferno des Krieges. Orange-rote Feuerballen erhellen den Himmel.

Das Krachen der einschlagenden Raketen begleitet das Donbass-Leuchten. An den Checkpoints kommt nur durch, wer das täglich wechselnde Passwort kennt. Den vollen Namen nennt hier keiner mehr, das Gesicht zeigen wollen nur noch wenige. In der militärischen Sperrzone direkt an der «Zero Line», der Kriegsfront, ist die Anspannung gross. Der Tod liegt förmlich in der Luft. Jeden kann es treffen, jederzeit. 200 ukrainische Soldaten sterben hier – jeden Tag.

«Du solltest nicht hier sein, es ist zu gefährlich!»

Die 79. Brigade hatte bislang Glück. Nur einen aus ihren Reihen hats bislang erwischt. Das erzählen uns die Soldaten, als wir morgens um zwei Uhr am Rand ihres Blachenlagers in einem Waldstück irgendwo im Dunkel des nördlichen Donbass in einen Graben kriechen. Um den Graben herum stehen getarnte Militärfahrzeuge. In der Küche stapeln sich Eier und Kartoffeln. In den Zelten liegen schnarchende Männer und Kalaschnikows. Unter einem der Lastwagen schläft Kukusya, der pechschwarze Fronthund. In der Luft liegt modriger Geruch.

Unten im Erdloch ist es stickig und eng. Rund anderthalb Meter tief ist der Graben, vielleicht fünf Quadratmeter gross, überdacht mit Baumstämmen, am Boden zwei Schlafsäcke, dicht gedrängt sechs Soldaten, mein Übersetzer und ich. Es gibt Wodka, Fisch und viel zu erzählen.

«Nastrowje!», rufen alle quer durcheinander. Kämpfer mit schroffen Gesichtern sitzen im Graben, übermüdete Augen blinzeln im Halbdunkel, ein dicker Offizier schneidet Brot und Andryi (36) schaut mich böse an. Er sieht aus wie einer der Soldaten auf den Werbeplakaten, mit denen die ukrainische Armee in Kiew nach Freiwilligen sucht: kantiges Gesicht, dichtes Haar, helle Augen. Doch Kiew ist weit weg, hier ist Krieg. «Du solltest nicht hier sein, es ist zu gefährlich», sagt Andryi. «Die Wahrheit willst du? Das lohnt sich nicht!», ruft er durch den engen Raum.

Dann kommen plötzlich die russischen Drohnen

Andryi ist wütend. Seine Mutter lebt in Moskau. Sie beschimpft ihn am Telefon, glaubt ihm nicht, wenn er vom russischen Krieg erzählt. Seine beiden Töchter sind vorübergehend in Sicherheit. Und er, er hat sich freiwillig für die Front gemeldet. «Meine Kinder sollen in diesem Land hier aufwachsen können, in meiner Heimat. Wir dürfen diesen Krieg nicht verlieren, der Preis ist viel zu hoch!»

Mit seinen Kameraden hat er in Mikolajew an der Schwarzmeerküste gekämpft, hat Siversk im Osten verteidigt, jetzt ist er hier, an dieser Stelle, die ich nicht nennen darf. Schon mehrfach haben russische Truppen nach Artikeln von westlichen Journalisten ukrainische Stellungen angegriffen, weil die Journalisten zu viele Details verraten haben. «Bring uns nicht um!», mahnt mich Andryi. Ein Kamerad bringt neuen Fisch, neuen Wodka, die Nacht bringt wenig Schlaf.

Zurück im Eichenwald: «Grad»-Meister Vitali liegt zufrieden im Laub, ein Kamerad bringt Schaschlik und Kuchen an die Frontstellung und braust rasch wieder davon. Auf der Kuchenbox kleben farbige Kinderzeichnungen. Sie sollen den Soldaten Mut machen. Doch manchmal machen sie traurig. «Mein Enkel ist in diesem Alter», sagt Kommandant Pavlovic und betrachtet die Zeichnungen. «Er hat mir gesagt, ich müsse den Krieg bis am 5. Juni gewinnen. Am 6. Juni sei schliesslich der Geburtstag seiner Grossmutter.» Dann plötzlich wieder laute Schüsse. Ich ducke mich instinktiv weg. Pavlovic lacht. «Keine Angst, das sind unsere Männer. Sie wecken die Russen.»

Dann aber lacht er plötzlich nicht mehr. Sein Handy piepst – quakquak, wie eine Ente –, sein Blick ist streng. «Sie suchen uns! Ab in den Wald!» «Sie», das sind die Russen, die mit ihren Drohnen die Gegend nach möglichen Zielen für ihre eigenen Raketenwerfer absuchen. Die Treffer von Vitali sind ihnen nicht entgangen. Sie wollen zerstören, was sie zu zerstören droht.

Die Russen schicken Kriegsgefangene an die Front

Ich stolpere mit zwei Soldaten zu Vitali ins Unterholz. Wir sitzen unter dichten Eichenkronen, blicken gebannt in den Himmel. Ich habe Angst, mein Magen zieht sich zusammen. Pavlovic läuft am Waldrand auf und ab, in der Hand ein Scharfschützengewehr. Doch die Drohne bleibt unsichtbar. Ob sie uns gesehen hat? Kurze Zeit später zischen mehrere Geschosse über uns hinweg und krachen irgendwo in den Wald. «Einschlag ein Kilometer da drüben», sagt Pavlovic und zeigt in den Wald. Seit Februar ist er an der Front. Er hört den Raketen an, wo sie landen. Für uns ist es Zeit, zu gehen.

Igor (48) holt mich ab und fährt mich zu einem verfallenen Bauernhaus. 300 Meter sind es von hier bis hinunter zum Fluss, an dem die russischen Wagner-Truppen stehen. Von hier aus späht Igor die Feinde mit seiner Drohne aus: einer DJI Mavic 3, Kostenpunkt rund 1800 Franken, erhältlich in diversen Online-Shops auch in der Schweiz. Auf den Live-Videos seiner Drohne sieht Igor manchmal Panzer, manchmal herumstehende Soldaten, manchmal Männer in syrischen Gewändern: «Die Russen schicken jetzt schon ihre Gefangenen von den früheren Kriegen hierhin. Die schiessen ohne Taktik, kämpfen ohne Rücksicht auf Zivilisten», sagt Igor. Und er? Nimmt er Rücksicht? «Worauf? Da drüben gibt es keine Zivilisten, nur Feinde.»

Igor lässt die Drohne in den Himmel über der Kriegsfront steigen. Seine Aufgabe: den Feind finden, die Koordinaten an die Kameraden geben, den Angriff filmen, gegebenenfalls Koordinaten-Korrekturen durchgeben. Igors Handy, auf dem er mir gerade noch ein Video seiner hochschwangeren Frau gezeigt hat, zeigt jetzt Live-Aufnahmen von kaputt geschossenen Häusern und Wald. «Da, Dreckspuren. Könnte ein Zeichen sein», sagt Igor und zoomt rein. Nichts. «Hunde! Wo Hunde sind, sind auch Menschen.» Doch wieder nix. Der Feind versteckt sich gut.

Ivan (19), der nette Bombenbastler

Über den Bauernhof hinweg donnern immer wieder Geschosse. Igor stört das längst nicht mehr. «Pause», sagt er und setzt sich an den kleinen Tisch auf dem überdachten Sitzplatz im Garten. Neben ihm packt Ivan (19) kleine Bomben aus einem Plastiksack und legt sie zu den aufgetischten Guetzli. «Die habe ich selber gebaut», erklärt Ivan, der jüngste Soldat der 79. Brigade. Ein stolzes Lächeln zieht sich über das jugendliche Gesicht, das schon so viel Leid gesehen hat.

Ivan nimmt Igors Drohne in die Hand und spannt die kleine Bombe in die selbstgebastelte Metallklaue. Der Verschluss klickt, Ivan hebt die Drohne hoch, die Bombe hält. Mit solchen Drohnen fliegen ukrainische Soldaten seit Neuem immer wieder Angriffe auf russische Stellungen. Sie fliegen mit den Drohnen-Bombern über Feindesland, suchen nach Stellungen, platzieren sich über den Russen und lassen die tödliche Last per Knopfdruck mucksmäuschenstill aus der Metallklaue gleiten: ein Kriegsspiel mit tödlichen Folgen. «Willst du zuschauen?», fragt Ivan. Ich schüttle den Kopf. Keine Lust auf Drohnen. Keine Lust aufs Töten. Nicht mal Lust auf Guetzli. Nur noch leise Angst.

Ivan geht hinaus durchs Gartentor auf die Strasse vor dem Hof. Seine Drohne steigt surrend auf, verschwindet am Himmel. Minuten später landet sie wieder neben ihm. In der Klaue keine Bombe mehr.

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