Oleksander Goncharenkos (47) Arbeitsplatz ist verbarrikadiert mit meterhohen Sandsack-Wällen, die Fenster sind abgedeckt mit Holzplatten. Das Bürgermeisteramt der Donbass-Stadt Kramatorsk sieht aus wie eine Festung. Kramatorsk, neben Slowjansk die einzige noch nicht eroberte Stadt im Donbass, ist in weiten Teilen ausgestorben – bis auf die schwerbewaffneten Soldaten, die an jeder Ecke stehen.
In der Ferne ertönt das dumpfe Grollen der Artilleriegeschosse. In Goncharenkos Büro drehen ein paar Zierfische unbeeindruckt ihre Runden im Aquarium. «Ein Geschenk meiner Stellvertreter», sagt der Kramatorsker Bürgermeister in perfektem Deutsch mit leichtem Schweizer Akzent. «Ich füttere sie jeden Tag eigenhändig.»
Blick: Herr Goncharenko, wie ist es, Bürgermeister einer Geisterstadt zu sein?
Oleksander Goncharenko: Leider sind ja noch immer viel zu viele Menschen hier. Im Mai und Juni sind sogar etwa 10’000 Geflohene wieder zurückgekommen, weil ihnen das Geld ausging oder sie es fern der Heimat nicht mehr aushielten.
Was ist die Aufgabe eines Bürgermeisters im Krieg?
Zu meinen zivilen Pflichten sind militärische hinzugekommen. Wir stellen dem Militär Schutzanlagen zur Verfügung und legen Lebensmittel-, Wasser- und Medikamentenvorräte an für den äussersten Notfall.
Funktioniert die Stadt überhaupt noch? Gibt es noch Wasser, Lebensmittel und funktionierende Spitäler?
Kramatorsk funktioniert zu 90 Prozent normal. Wir mussten einen Teil der Busverbindungen in der Stadt einstellen wegen des Dieselmangels. Und vor manchen Banken oder Geschäften gibt es lange Schlangen, weil ein Grossteil des Personals ausgereist ist. Das Einzige, was uns wirklich fehlt, ist Gas. Die meisten Gasleitungen sind zerstört worden. Und solange sich die Kriegsfront nicht mindestens 20 Kilometer von der Stadt weg verschiebt, ist es unmöglich, diese Leitungen zu reparieren.
Sie haben in Bern studiert. Was haben Sie in der Schweiz gelernt, das Ihnen jetzt hilft?
Ich habe in der Schweiz manches gesehen, das wir hier seit längerer Zeit umzusetzen versuchen. Das System der Abfalltrennung zum Beispiel, das lernte ich während meiner Zeit in Bern kennen.
Oleksander Goncharenko (47) spricht fliessend Deutsch. Er hat die Sprache in der Schule gelernt, in den 1990er-Jahren in Bern Wirtschaft studiert und jahrelang in der Schweiz gewohnt. Seit knapp zwei Jahren regiert er die 210’000 Einwohner von Kramatorsk. Etwa 150’000 sind inzwischen aus der Stadt geflohen.
Oleksander Goncharenko (47) spricht fliessend Deutsch. Er hat die Sprache in der Schule gelernt, in den 1990er-Jahren in Bern Wirtschaft studiert und jahrelang in der Schweiz gewohnt. Seit knapp zwei Jahren regiert er die 210’000 Einwohner von Kramatorsk. Etwa 150’000 sind inzwischen aus der Stadt geflohen.
Haben Sie noch Kontakte in die Schweiz?
Natürlich. Ich habe mich mit meinen Schweizer Freunden in den vergangenen 30 Jahren regelmässig getroffen.
Tut die Schweiz genug für die Ukraine?
Die Schweiz hat uns gegeben, was sie uns geben konnte. Ihr tragt die Sanktionen mit. Und dass ihr uns keine Waffen liefern könnt, das verstehe ich.
Kramatorsk wurde früh im Krieg Ziel eines brutalen russischen Anschlags auf den Bahnhof. 59 Menschen starben. Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Dieser 8. April war der schwierigste Tag für mich in diesen fünf Monaten Krieg. Keiner hier hätte so etwas erwartet. Wir hätten nicht damit gerechnet, dass die Russen so etwas anrichten würden.
Sie haben viele russische Bekannte. Hat der Anschlag Ihre Einstellung gegenüber Russland verändert?
Total. Nach dem ersten Kriegsmonat habe ich alle 2500 russischen Kontakte, die ich auf meinem Telefon gespeichert hatte, gelöscht. Zu Beginn des Krieges haben sich viele noch per SMS für den Krieg entschuldigt und Putin die Schuld in die Schuhe geschoben. Es ist nicht sinnvoll, mit diesen Leuten weiter zu diskutieren.
Wie bereitet sich Ihre Stadt auf den drohenden russischen Angriff vor?
Gegen die russischen Raketen können wir nicht viel tun. Gegen die Bodenangriffe aber schon: Rund um die Stadt herum wird derzeit viel gegraben. Es gibt drei Verteidigungsringe, die die Armee um Kramatorsk herum zieht: einen am Stadtrand, einen etwas weiter drinnen und einen um das Zentrum von Kramatorsk.
Die Stadt ist voll mit Soldaten. Wie viele sind hier?
Das dürfte ich dem Blick nicht verraten, selbst wenn ich die genaue Anzahl kennen würde.
Täglich ertönen Sirenen, überall fahren Militärfahrzeuge herum, in der Ferne hört man Artillerieschüsse: Die Stadtbevölkerung ist doch sicher schwer traumatisiert, oder?
Die Sirenen aktivieren wir ja nicht zum Spass, sondern um die Leute vor Raketen zu warnen. Leider haben sich viele daran gewöhnt und verstecken sich nicht mehr an sicheren Orten.
Präsident Selenski hat alle Zivilisten aufgerufen, den Donbass zu verlassen. Wie versuchen Sie als Bürgermeister, Ihre Mitbürgerinnen zur Flucht zu bewegen?
Ich kann niemanden zur Flucht zwingen. Was ich ihnen sagen kann: Die Hälfte der noch verbleibenden Leute hier, also etwa 30’000, wird bleiben – egal, was passiert.
Weil sie Putin-Fans sind?
Nur etwa fünf Prozent sind russlandfreundlich. Das sind viel weniger als noch vor ein paar Jahren. Vor dem ersten Überfall der prorussischen Terroristen auf Kramatorsk und Slowjansk waren etwa 40 Prozent der Menschen hier prorussisch eingestellt.
Wieso bleiben die Menschen trotz der grossen Gefahr hier?
Vor allem alte Menschen wollen unter keinen Umständen ihre Häuser verlassen. Ihre Häuser oder Wohnungen sind oft das Einzige, was sie besitzen. Für sie ist dieses Stück Heimat mehr wert als ihr Leben.
Und Sie selber, haben Sie nie an Flucht gedacht?
Ich war seit Kriegsausbruch nur einen einzigen Tag weg, um in Dnipropetrowsk ein paar Dinge zu erledigen. Der Bürgermeister muss von den Leuten gesehen werden, vor Ort sein.
Die Russen haben immer wieder ukrainische Bürgermeister entführt und gefoltert. Haben Sie keine Angst vor diesem Schicksal?
Wenn die Gefahr besteht, dass Kramatorsk eingezingelt wird, und uns ein Schicksal droht wie in Mariupol, dann würde ich gehen. Den Russen zum Opfer zu fallen und sich von ihnen gefangen nehmen zu lassen, ist das Dümmste, was man machen kann. Das gibt ihnen die Macht, Tauschgeschäfte zu machen und ihre eigenen Gefangenen rauszuholen.
Ihre Familie ist nicht mehr hier.
In meiner Situation macht es keinen Sinn, die Familie bei mir zu haben. Man sollte sich bei Raketenangriffen oder Bombenanschlägen nicht ständig Sorgen machen müssen um Frau und Kinder. Wären sie hier, dann würde ich immer zuerst an sie denken, wenn etwas passiert, und nicht an meine Pflicht als Bürgermeister. Ich könnte meinen Job nicht zu 100 Prozent ausführen.
Was glauben Sie, Herr Goncharenko: Wann ist der Krieg vorbei?
Mein inneres Gefühl sagt mir: Bis Ende Jahr haben wir entweder gesiegt oder dann Verhandlungen mit den Russen aufgenommen. Bis dahin halten wir durch.