Die Mörder kamen mitten in der Nacht – und machten einen Riesenlärm. Galina Lohinowa (70) dachte zuerst, da ziehe eine Militärparade auf der Strasse vor ihrem Haus vorbei. Doch dann wurden die Explosionen lauter, die Erde bebte, die Nachbarhäuser standen plötzlich in Flammen, Menschen schrien. Ihr Schwiegersohn stürmte ins Schlafzimmer und brachte Galina Lohinowa raus aus der Stadt. Viele ihrer Nachbarn hatten weniger Glück. Sie starben in ihren Wohnungen, verbrannten in den kaputt geschossenen Blöcken.
Lohinowa beisst auf ihr goldenes Kreuz und schaut mit leerem Blick die Strasse von Borodjanka runter, auf der links und rechts verkohlte Ruinen stehen. «Warum sind die Russen hierhergekommen? Wir haben doch nichts gemacht», sagt sie. Vor ihr auf dem Boden stehen vier Kübel mit kleinen, sauren Äpfeln. Das ist alles, was Galina Lohinowa noch hat, um ein paar Hrywnja zu verdienen.
Borodjanka, Butscha, Irpin – nirgendwo wüteten die Russen brutaler
Fünf Monate ist es her, dass russische Soldaten die Vororte westlich von Kiew angegriffen und Tausende Zivilisten ermordet haben. Borodjanka, Butscha, Irpin: Diese Namen haben sich ins Gedächtnis der Weltgemeinschaft eingebrannt. Die einst wohlhabenden Gemeinden sind heute eine Zone des Grauens. Die Bewohner, die den Horror überlebt haben, stolpern traumatisiert durch die zerstörte Kulisse.
Galina Lohinowas Haus ist eines der wenigen, das die Russen verschont haben. «Wahrscheinlich, weil ich das alte Strassenschild nie abmontiert habe», sagt sie und zeigt auf eine blaue Tafel an der Hauswand: «Lenina 399-1» steht auf dem Schild. Die zentrale Strasse von Borodjanka war zu Sowjetzeiten nach dem einstigen Russen-Führer benannt.
Versteckt vor den Vergewaltigern
Hinten im blühenden Garten sitzt Galina Lohinowas Grossnichte Olga (22) auf einer alten Schaukel. Auf dem Tisch liegen Raketensplitter. «Ein Geschenk von Putin», sagt Olga. Sie hat die rostigen Teile kürzlich im Schutt ihres Elternhauses gefunden, das die Russen am 4. März zerstört haben.
Olga kauerte in dieser Nacht im Keller zwischen den Konservendosen. «Rattattattatta», habe es von oben getönt, erzählt sie. Oberhalb ihres linken Auges zieht sich eine lange Schramme über die Stirn. Doch im Vergleich zu all den Frauen, die die Russen während ihrer Besatzung vergewaltigt haben, kam die junge Lehrerin heil davon.
Ukraine-Krieg, Donald Trumps geplante Rückkehr, globale Hungerkrise: Die Welt kommt auch nach der Corona-Pandemie nicht zur Ruhe. Deshalb baut Blick seine internationale Berichterstattung per sofort aus. Auslandsreporter Samuel Schumacher (34) berichtet neu live von den Hotspots des Weltgeschehens und geht dahin, wo die wichtigsten Geschichten unserer Zeit passieren. Nebst politischen Analysen, Breaking News und Experten-Einschätzung will Blick dem Globus aus nächster Nähe auf den Puls fühlen und erzählen, wie das Weltgeschehen den Alltag der Menschen rund um den Planeten prägt. Als Historiker, Trekkingtouren-Leiter und erfahrener Auslandsredaktor ist Samuel Schumacher bestens auf die nicht immer ganz einfache Aufgabe vorbereitet.
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Plötzlich mischt sich Sirenenalarm in das Vogelgezwitscher im sommerlichen Garten. Niemand regt sich. Olga lächelt nur. Damals, als die Russen kamen, gab es hier noch gar keine Sirenen. Niemand dachte ernsthaft, dass die friedlichen Vororte von Kiew das Ziel von Putins Schergen sein würden. Und heute scheinen die Menschen hier wie paralysiert. Alarm? Sirenen? Na und! «Es macht keinen Sinn, wieder hier zu sein. Aber: Wohin sollen wir denn gehen? Wir vertrauen darauf, dass uns der Horror nicht ein zweites Mal heimsucht», sagt Olga.
Kopfschuss für Taras Schewtschenko
Auf dem Dorfplatz von Borodjanka ist Markt. Männer in grünen Schürzen bewerben ihr Gemüse. Eine Frau bietet farbige Socken und BH zum Verkauf. Dahinter ragen die verkohlten Wohnblockruinen in den Sommerhimmel. Im Zentrum des Dorfplatzes steht eine grosse Büste des Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861). Schewtschenko hat ein Loch in der Stirn. Kopfschuss. «Die Russen schänden sogar unsere Statuen», sagt Dmytro Tymoschenko (42) und zuckt mit den Schultern.
Tymoschenko hat vor dem Krieg ein Möbelgeschäft in Irpin betrieben. Als die Russen kamen, streifte er seine Uniform über, schulterte das Gewehr und fuhr mit seinem grünen Mercedes-Bus verzweifelte Menschen aus der Gefahrenzone, immer und immer wieder. Heute fährt er mich, den Blick-Reporter, durch die geschändete Gegend. «Da, zerstört, da, kaputt, das hier, zerbombt», sagt Tymoschenko und zeigt mit seinen mächtigen Händen auf das, was von seiner Heimat nach dem Abzug der Russen übrig blieb.
Rasenmähen vor der zerstörten Ed-Sheeran-Kirche
Mit dem Weinen hat er längst aufgehört. Auf ein baldiges Ende des Krieges zu hoffen, das wagt er noch nicht. «Die Weissrussen könnten hier bald einmarschieren. Davor warnen unsere Spezialeinheiten», sagt Tymoschenko und zeigt auf eine Gruppe Soldaten, die am Eingang von Butscha eine neue Sandsackschutzwand errichten. Der Mercedes-Bus fährt vorbei an einem kaputt gebombten Einkaufszentrum mit Bowlingbahn. Es sieht aus wie ein riesiger, umgekippter Altmetallcontainer. Ein Schild ragt aus dem rostigen Haufen. «Strike & Grill» steht darauf. «Treffen & Braten». Zynisch wirkt das Schild inmitten der verkohlten Ruine.
Dann bremst Tymoschenko vor einer blauen Kirche an der Grenze zwischen Butscha und Irpin. «Hier hat Ed Sheeran sein neues Video gedreht», sagt er. Die Fassade des Gotteshauses ist zerschossen, die Fenster zersplittert, drinnen schwarz verbrannte Leere. Vor der Kirche aber stehen zwei Gemeindearbeiter und trimmen den trockenen Rasen. Ein absurdes Bild. «Flicken und putzen ist die Therapie der Ukrainer», sagt Tymoschenko. «Viele hier sind wie erstarrt. Sie wissen nicht, wie sie mit all dem umgehen sollen.» Kraft für Angst, Energie für all die Sorgen, das hätten sie längst nicht mehr. Warum also nicht den Rasen mähen? Schaden tut das ja keinem.