Fast 16 Stunden lang dauerte Olgas (35) Busfahrt von Warschau zurück nach Kiew. Über holprige Strassen, vorbei an Dörfern, deren Ortsschilder die ukrainischen Soldaten abmontiert hatten, um den russischen Eindringlingen keine Orientierungshilfe zu bieten. «Es ist, als käme ich in ein völlig anderes Land zurück», sagt meine ukrainische Sitznachbarin, als wir am Stadtrand von Kiew an einem kaputt gebombten Einkaufszentrum vorbeifahren. Sie schüttelt den Kopf und seufzt. «Schau dir das an!»
Überall liegt rostiges Kriegsgeröll, fein säuberlich aufgetürmt von Baggern und Baukränen. Der Bus fährt in Schlangenlinien durch die Militärcheckpoints auf der Strasse. Junge Männer und Frauen in Armeeuniformen stehen hinter Sandsäcken und Betonblöcken. Wirklich interessieren für den anrollenden Verkehr tut sich keiner von ihnen.
Gleich neben den Checkpoints bieten Bäuerinnen am Strassenrand Tomaten zum Verkauf. Gemüse und Gewehre, der normale Alltag und der Krieg: Sie verschmelzen am Stadtrand von Kiew in diesen Tagen zu einem eigenartigen Hier und Jetzt.
Freiwillige Soldaten gesucht – für 1200 Dollar im Monat
Im Stadtzentrum wirkt auf den ersten Blick alles wie damals, bevor die Russen in das Land einfielen. Nach wenigen Tagen standen Putins Panzer und Raketenwerfer Ende Februar in Kiews Aussenquartieren und feuerten auf die Millionenmetropole.
Im Herzen der Stadt erinnern heute nur noch ein paar stählerne Panzersperren und Plakate zu Ehren der Gefallenen an die heftige erste Kriegsphase. An manchen Häusern hängen Aufrufe, man solle sich als Freiwilliger bei der ukrainischen Armee melden. Ausbildung und Erfahrung: egal. Lohn: 1200 US-Dollar. Umgerechnet 1150 Franken. Jobstart: sofort.
Sonst aber hat Kiew wieder zu seinem alten Trott gefunden: Die meisten Beizen sind offen. Jogginggruppen rennen an gut gekleideten Spaziergängerinnen vorbei. Blumenverkäufer büscheln ihr farbiges Gut. Auf dem Prachtboulevard Chreschtschatyk vermischt sich der Sound der Strassenmusiker mit der seichten Dauerbeschallung der Einkaufsboutiquen. Aus dem oberen Stock des Opernhauses dringt der schrille Gesang einer Sopranistin, die sich auf ein Konzert vorbereitet.
Die Friedenstauben langweilen sich
Auf dem zentralen Platz Maidan, wo sich 2014 die Massenproteste für mehr Demokratie in der Ukraine formierten, steht Sergej (26), übersät mit Tattoos, ein breites Lächeln im schmalen Gesicht. Auf seinen Armen sitzen zwei weisse Tauben. «100 Dollar für ein Foto», lacht der junge Mann aus Butscha, dem Kiewer Vorort, in dem die Russen im März Hunderte Zivilisten vergewaltigten, folterten und ermordeten.
Das Geschäft mit dem Frieden laufe grade nicht so gut, sagt Sergej und schaut auf die beiden Tauben. «Sebastian und Jeva hatten auch schon mehr zu tun.» Aber besser als Nichtstun sei der Job allemal.
Und zur Armee? «Ich gehe, wenn sie mich rufen», sagt Sergej. «Bis dahin unterstütze ich unsere Kämpfer auf meine eigene Art: mit Posts in den sozialen Medien.» Gewinnen werde die Ukraine auf jeden Fall. Da ist sich der Strassenverkäufer sicher. «Wir haben so viele Freunde auf der ganzen Welt, die uns helfen: Aber schnell wird der Sieg wohl nicht kommen.»
Luftalarm-Warnung in der Hotellobby
An den Sieg glaubt auch Lera (14) aus Kiew, die mit ihren Freundinnen vor dem grossen «I love Kiew»-Kunstwerk Selfies schiesst. «Ich hasse Russland. Fast alle meiner Freunde sind ins Ausland geflohen. Aber wir werden gewinnen – und dann wird alles wieder gut.»
Ähnlich sieht das Olena (48), die mit ihrem Mann Oleg (52) in der Abendsonne auf dem Maidan steht. «Wir sind vor zwei Jahren nach Darmstadt gezogen und nur in den Ferien hier», erzählt die gebürtige Ukrainerin. «Wir wollten mit eigenen Augen sehen, wie es unserer Heimat geht. Und wir sind uns ganz sicher: Wir werden siegen – und die Russen haben längst verloren.»
Zurück im Hotel steht ein Schild auf dem Tresen: «Liebe Gäste, Luftalarm! Unser Team ist im Bunker. Wir sind zurück, sobald es wieder sicher ist.» Und tatsächlich: Ein Blick auf die ukrainische Luftalarm-App zeigt an: Gefahr über Kiew. «Verstecken Sie sich!»
Passiert ist nichts. Doch die Gewissheit ist auf einmal wieder da: Vorbei ist der Krieg für Kiew noch lange nicht, auch wenn Putins Panzer nicht mehr direkt vor der Haustür stehen.
Ukraine-Krieg, Donald Trumps geplante Rückkehr, globale Hungerkrise: Die Welt kommt auch nach der Corona-Pandemie nicht zur Ruhe. Deshalb baut Blick seine internationale Berichterstattung per sofort aus. Auslandsreporter Samuel Schumacher (34) berichtet neu live von den Hotspots des Weltgeschehens und geht dahin, wo die wichtigsten Geschichten unserer Zeit passieren. Nebst politischen Analysen, Breaking News und Experten-Einschätzung will Blick dem Globus aus nächster Nähe auf den Puls fühlen und erzählen, wie das Weltgeschehen den Alltag der Menschen rund um den Planeten prägt. Als Historiker, Trekkingtouren-Leiter und erfahrener Auslandsredaktor ist Samuel Schumacher bestens auf die nicht immer ganz einfache Aufgabe vorbereitet.
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