In den meisten Ansprachen bleibt er gelassen, nur selten wird er emotional: Obwohl der russische Präsident Wladimir Putin (70) in einem Jahr Krieg keine militärischen Ziele erreicht hat, wirkt er in der Öffentlichkeit nach wie vor entspannt. Auch wenn die Mächtigsten des Landes unzufrieden sind, bleibt die öffentliche Kritik aus. «Die Eliten haben Angst, aktiv zu werden», sagt der ehemalige Diplomat Boris Bondarew (43) der «Washington Post».
Für die Reichen Russlands bedeutet der Krieg in der Ukraine vor allem einen enormen Einnahmeverlust. In den letzten 30 Jahren baute sich Russland wirtschaftlich auf und konnte enorme Fortschritte aufweisen – zu grossen Teilen auch unter Putins Führung. Er schaffte eine Art Wohlstand, wie ihn die Bevölkerung zuvor nie gekannt hatte. Damit ist Schluss.
Jetzt zweifeln immer mehr Beamte und Geschäftsleute an Putins Krieg. «Die Elite weiss zwar, dass es ein Fehler war, hat aber immer noch Angst, selbst etwas zu tun», so Bondarew. Immerhin habe die Elite sich daran gewöhnt, dass Putin alle Entscheidungen alleine trifft. Die Opposition sei in Russland quasi nicht mehr vorhanden und wer nicht nach Putins Regeln spiele, lebe gefährlich. Es droht Knast.
Finanzielle Unterstützung der Elite für Krieg unverzichtbar
Den Krieg und seine Folgen bezahlt die russische Elite. Angenommen, Putin erreicht seine Ziele und kann die Ukraine dazu bringen, Teile im Donbass abzugeben, so kommt der Krieg die russische Elite teuer zu stehen. Die Wohlhabendsten des Landes müssten Geld investieren, um die Kriegsgebiete wieder aufzubauen, während die Geschäfte durch die Sanktionen weiter einbrechen.
Doch auch eine Niederlage bedeute keinen Regierungswechsel. «Einige sind sich sicher, dass Putin seine Macht auch ohne einen Sieg aufrechterhalten kann», schätzt Bondarew. «Solange er den Krieg fortsetzt und die Entschlossenheit des Westens und seine Waffenlieferungen zermürbt, passiert nichts.» Damit die Menschen ihre Kritik äussern, müsste noch viel mehr geschehen als bisher. Er ist sicher: «Es muss zu einem vollständigen militärischen Verlust kommen. Erst dann werden die Menschen verstehen, dass sie etwas handeln müssen.»
Eliten fürchten um ihr Leben
So oder so: Es trifft die Reichen. Die Situation an der Front stagniert und der Pessimismus im Land wächst. Und Putin wird nicht von seinen imperialistischen Vorstellungen ablassen. Seine grösste Waffe ist die Angst. Bereits in den letzten 20 Jahren konnte er die Eliten dazu zwingen, ihr Vermögen abzugeben, oder er warf sie ins Gefängnis, wie es weiter im «Washington Post»-Bericht heisst. Auch jetzt muss der Krieg finanziert werden. Sich zu weigern, ist lebensbedrohlich – man könnte das nächste Opfer einer mysteriösen Todesserie werden und zum Beispiel aus dem Fenster stürzen. Zuletzt sorgte der Tod von Marina Yankina (†50) vergangene Woche für Aufsehen. Sie war eine Schlüsselfigur bei der Finanzierung von Putins Krieg in der Ukraine.
In den letzten Monaten sind mehrere russische Beamte auf mysteriöse Art und Weise ums Leben gekommen. Am 26. Dezember 2022 starb beispielsweise Pawel Antonow (†65), der reichste Abgeordnete des russischen Parlaments und Putin-Kritiker, in Indien. Er stürzte aus einem Hotelfenster. Sein Begleiter Wladimir Bidenow wurde wenige Tage zuvor tot im selben Hotel aufgefunden.
«Jeder Angehörige der russischen Elite ist besorgt», sagt Alexandra Prokopenko, ehemalige Beamtin bei der Zentralbank. Ihre Kollegen, die in Russland geblieben sind, sehen keinen sicheren Ausweg. Prokopenko ist überzeugt: «Es ist eine Frage des Überlebens für hochrangige und mittelrangige Beamte, die in Russland geblieben sind.» (jwg)