Der Ukraine-Krieg und die westlichen Waffen sind im russischen Staatsfernsehen ein Dauerthema. In der TV-Show «60 Minuten» auf dem Staatssender Rossija 1 sprachen die Gäste über die Himars-Raketenwerfer, die die Amerikaner den Ukrainern geliefert hatten. Weitere Waffenlieferungen der USA könnten die Sachlage sogar derart provozieren, dass sich der Konflikt bis nach Polen ausweiten könnte – lautet der Ton der TV-Show.
Der eingeladene Politikwissenschaftler Michail Markelow (55) sagte, dass mittlerweile keine Zweifel mehr bestehen würden, dass «Angriffe mit diesen schweren amerikanischen Waffen auf unser Territorium ihr Plan war, und zwar schon lange vor Beginn der militärischen Spezialoperation. Dafür gibt es eindeutige Beweise. Als Amerika den INF-Vertrag gekündigt hat, wusste sie schon, dass sie der Ukraine schwere Waffen liefern wird. Mit denen dann auf friedliche Städte in Russland geschossen wird. Die Städte in Russland sind das Ziel, das die Amerikaner verfolgen. Und nicht nur die Amerikaner, jetzt auch die Europäer.»
Trump kündigte Abrüstungsabkommen
Die USA hatten unter Donald Trump im Jahr 2019 den INF-Abrüstungsvertrag aufgelöst. Der Vertrag aus dem Jahr 1987 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion untersagte den Bau und Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Raketen oder Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Die Abkürzung INF steht für «Intermediate Range Nuclear Forces», auf Deutsch: nukleare Mittelstreckensysteme.
Beide Länder warfen sich Vertragsbruch vor. Die Amerikaner gingen davon aus, dass Russland mit ihren Raketen vom Typ 9M729 gegen den Vertrag verstosse, weil diese bis zu 2600 Kilometer weit fliegen können. Der Kreml wies die Vorwürfe zurück und versicherte, die Reichweite liege knapp unter 500 Kilometern, was vertragskonform wäre.
Russland betonte seinerseits, die USA würden den Vertrag seit 1999 verletzen. Zudem verstosse Washington mit dem Einsatz von Raketenabwehrsystemen in Europa gegen das Abkommen. Weitere Kritiker warfen USA zudem vor, kein besonders grosses Interesse an dem INF-Vertrag in seiner damaligen Form gehabt zu haben. Vor allem, weil der Deal nur Amerikaner und Russen band, nicht aber China.
«Das Ziel ist Russland»
Als weiteres Beispiel für die vermeintlich unrühmlichen Absichten der USA brachte Markelow die Gespräche auf der «Helsinki-Kommission» Ende Juni. «Auf diesem Briefing wurde deutlich ein Ziel formuliert. Das Ziel ist Russland. Es wurde eine Russland-Karte gezeigt. So, wie sie Russland sehen. Die nordwestlichen und zentralen Regionen sind Russland, während der Rest – der Nordkaukasus, Ural, Sibirien, der ferne Osten separate Staaten sind», sagte Markelow.
Die Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz «Helsinki-Kommission» hatte am Briefing am 23. Juni «Dekolonisierung Russlands» zum Thema. Unter den Teilnehmern war auch die gebürtige Kasachin Botakos Kassymbekowa, Historikerin an der Uni Basel. Ihr Auftritt wurde bereits in der Sendung eines anderen Kreml-Propagandisten, Wladimir Solowjow (58), aufgegriffen. Wie sie selber auf Twitter schreibt, sei ihr Statement jedoch für Verschwörungstheorien missbraucht worden. Es sei dagegen wichtig, dass Russland seine koloniale Vergangenheit und Gegenwart hinterfrage.
Dekolonisierung in Europa hat die Welt sicherer gemacht
Im Briefing sagte sie, dass die Sowjetunion ein Narrativ kreiert habe, wonach Kolonialisierung ein Problem des Kapitalismus, während der Sozialismus eine «befreiende Kraft» sei. Diese Denkweise sei besonders im globalen Süden attraktiv gewesen, weswegen man die «koloniale Dimension der Sowjetunion» übersehen habe.
Die europäische Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Welt zu einem demokratischeren und sicheren Ort gemacht. In Russland habe dieser Prozess nicht stattgefunden, sagte sie. «Eine Dekolonisierung Russlands würde die Anerkennung des imperialen und brutalen Charakters der Sowjetunion und der heutigen russischen Ambitionen bedeuten.»
Zudem wäre ihrer Meinung nach die Einrichtung von Gerechtigkeits- und Versöhnungskomitees, die über Gräueltaten Rechenschaft ablegen, um die Würde der Kolonisierten wiederherzustellen, vonnöten. «Die Dekolonisierung Russlands wird zu einer sichereren und demokratischeren Welt in Eurasien führen.»
Polens Ex-Präsident will Russland auf 50 Millionen reduzieren
Michail Markelow war jedoch der Ansicht, dass das Thema eine Spaltung von Russland beabsichtige. «Die Zergliederung Russlands wird als Dekolonisierung bezeichnet», sagt er in der Show am Dienstag.
Die Moderatorin Olga Skabejewa (37) pflichtete ihm bei und brachte den ehemaligen polnischen Präsidenten Lech Walesa (78) ins Spiel. Walesa hatte im Interview mit dem französischen TV-Sender LCI gesagt, Russland müsse zerschlagen und dessen Bevölkerung auf 50 Millionen reduziert werden, weil das Land «imperialistisch» sei. Walesa sprach weiter davon, den «Wechsel des politischen Systems» zu erzwingen oder «einen Aufstand der Völker» zu organisieren.
Eine Unverschämtheit für Skabejewa. «Er sagt direkt, dass man das russische Volk zum Aufstand bringen und Russland auseinanderbrechen müsse. Er meint, man müsse lediglich 50 Millionen Menschen übrig lassen. Was will er damit sagen? Dass 100 Millionen Russen vernichtet werden sollen? Hätte er versucht, so was in Bezug auf Israel zu sagen, hätte die ganze Welt aufgeschrien. Aber in Bezug auf die Russen kann er sich das aus irgendwelchen Gründen erlauben. Er ruft zu einem Terrorakt auf, zur Vernichtung unseres Staates», sagte sie.
«Wir werden bis Warschau ziehen»
Auch Michail Markelow ist dieser Meinung. Für ihn ist klar: «Wenn wir die Waffenlieferungen anschauen, sehen wir, dass keiner für die Ukraine kämpft». Denn weder sei der Westen zu Gesprächen bereit noch gehe es um die «Rettung der ukrainischen Bevölkerung», die zum «Kanonenfutter» gemacht werde.
«Die Schritte, die Russland unternimmt, zeigen dagegen, dass wir nicht aufhören werden. Warum sollen wir auch? Indem wir die Menschen retten, sollen wir auf halbem Weg stoppen und sich zurückziehen? Das wird nie passieren!»
Skabejewa ist ebenfalls empört über die Lieferungen aus dem Westen. «Ich möchte euch daran erinnern, dass wir am Anfang nur vorhatten, die Menschen im Donbass vom Nazi-Joch zu befreien.» Aber nach der Lieferung der westlichen Waffen habe sich die Situation geändert und verschärft. «Wenn Gott bewahre, die Amerikaner Waffen liefern werden, die 300 Kilometer weit fliegen können, dann werden wir erst recht nicht aufhören dürfen. Sondern direkt bis Warschau ziehen. Und das sage ich nicht, weil ich eine Aggressorin bin, sondern weil es keine anderen Optionen gibt. Denn egal wo wir stehen, werden sie weiter die von uns befreiten Gebiete niederwalzen. Mit dem Wunsch, am Ende uns zu überfallen!»