Es fehlen Soldaten, die in der Ukraine kämpfen. Wladimir Putin (70) will aggressiver vorgehen, um schneller voranzukommen. Und dafür werden dringend Soldaten benötigt. Eine zweite Mobilmachung scheint unvermeidlich. «Die neue Mobilisierungswelle kann jeden Moment beginnen», schreibt die unabhängige Zeitschrift «Verstka».
Der Kreml hat bisher nicht offiziell verkündet, dass weitere Männer mobilisiert werden. Laut russischen Medien deutet aber alles darauf hin. Nach Quellen von «Verstka» bereiten sich Militärdienststellen und Stadtwerke akribisch auf neue Einberufungen vor.
So wurde den Beamten auch verboten, im Januar und Februar Ferien zu machen, weil so viel Arbeit bevorstehe, schreibt die «Moscow Times».
Mobilisierung ist «administrativ schwierig»
Die erste Teilmobilmachung lief alles andere als nach Plan – selbst Putin räumte damals Fehler ein. Damals gab es ein regelrechtes bürokratisches Chaos: Familienväter, Russen mit Behinderungen und Tote wurden fälschlicherweise einberufen. Ausserdem fehlte es an Waffen und Ausrüstung. Der ehemalige russische Elitesoldat Pawel Filatjew schreibt in seinem Buch über die russische Armee, sie sei «technisch hoffnungslos veraltet und moralisch verrottet». Und auch andere Soldaten beschwerten sich über die Zustände.
«Eine zweite Mobilisierungswelle wird administrativ schwierig durchzuführen sein», hält Ulrich Schmid (56), Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, gegenüber Blick fest.
Zum einen ist die Mobilisierung mit immensen Kosten verbunden. Bisher hat Russland gezeigt, dass es die finanziellen Ressourcen hat, den Krieg fortzuführen. Dass die Wirtschaft leidet, ist dem Kreml ziemlich gleichgültig, wichtiger sind die geopolitischen Interessen.
Mobilmachung macht Regierung unbeliebt
Doch ein anderer Aspekt wiegt noch schwerer: «Der Kreml weiss genau, dass er mit Mobilmachung seine eigene Machtposition in der Bevölkerung untergräbt» erklärt Schmid. Denn schon die erste Mobilmachung hat das Vertrauen vom Volk zur Regierung mächtig zerrüttet.
Putin hüllt sich bislang in Schweigen. Die Vorbereitungen laufen unter vorgehaltener Hand. Schmid: «Man erklärt offiziell keine neue Mobilisierung, sondern beruft Soldaten noch unter dem Titel der alten Mobilisierung ein.» Experten befürchten, dass bereits weit mehr als die damals angekündigten 300'000 Reservisten einberufen wurden.
Die Regierung hat auch andere Methoden, um Menschen ohne neue Mobilmachung in den Krieg zu schicken. So soll beispielsweise das Wehrpflichtalter von 18 bis 27 auf 21 bis 30 geändert werden. Statt ehemalige Reservisten schickt man Wehrpflichtige nach einem viermonatigen Training an die Front, schreibt der Nachrichtendienst «Nastajaschia Wremja».
«Der Krieg ist in der russischen Bevölkerung unpopulär, aber noch schlimmer ist die Aussicht auf eine russische Niederlage», sagt Schmid. Putin befindet sich in einer heiklen Situation: Er muss Erfolge in der Ukraine vorweisen, damit die Bevölkerung weiterhin hinter ihm steht. Doch mit jedem gefallenen Soldaten steigt der Unmut gegenüber dem Krieg, und die Bereitschaft, im Krieg zu dienen, sinkt stetig. Und dann sind erneute Proteste programmiert.