Noch vor einer Woche hätte Niels Kristensen (32) gesagt, er sei Nerzzüchter. Wie jedes Jahr im Spätherbst füllt er auf seiner Farm im südlichen Dänemark Benzin in die Maschine, mit der er seine Nerze tötet. Doch dieses Jahr muss er dabei weinen. Nicht aus plötzlicher moralischer Zerrissenheit, denn der Tod gehört auf eine Nerzfarm wie die Apfelernte auf eine Obstplantage. Sondern, weil sich innerhalb von nur einer Woche alles in Luft aufgelöst hat, wofür seine Familie so hart gearbeitet hat. Denn Dänemark lässt landesweit alle Zuchtnerze töten – insgesamt etwa 17 Millionen Tiere.
Wer hätte gedacht, dass das Thema Pelz noch stärker polarisieren könnte. Bereits vor der Corona-Mutation forderten Tierschützende und Nerz-Gegner das Ende der Zucht, die für sie den Inbegriff von Tierquälerei für ein unnötiges Luxusprodukt bedeutet. Doch nun kommt auch noch die weltweite Angst vor einer zweiten Pandemie ins Spiel, eine Regierung unter Zeitdruck und die illegale landesweite Anordnung zur Tötung aller gesunden Zuchtnerze. Kurz: Dänemark versinkt derzeit im Nerz-Chaos.
Besorgniserregende Mutation
Weshalb opfert ein Land in knapp zwei Wochen einen seiner grössten Industriezweige, in dem Dänemark Weltmarktführer ist? Auf dänischen Nerzfarmen ist das Coronavirus auf die Tiere übersprungen, dort mutiert und von den Tieren wieder auf den Menschen übergegangen. Seit Juni ist das mutierte Virus bereits bei über 200 Menschen, die sich an Nerzen angesteckt haben, aufgetreten. Was die Symptome betrifft, ist diese neue Mutation zwar nicht gefährlicher. Doch sie könnte dazu führen, dass ein möglicher Impfstoff weniger oder gar nicht wirkt oder dass Menschen, die die Krankheit überstanden haben, trotzdem nicht immun sind. Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass Antikörper von genesenen Covid-19-Patienten die neue Mutation weniger gut eindämmen können als die aktuelle Version des Virus. Premierministerin Mette Frederiksen sprach von möglicherweise verheerenden Folgen: «Im schlimmsten Fall haben wir eine Pandemie, die in Dänemark von vorne beginnt.»
Da die Mutation im hohen Norden Dänemarks entdeckt worden ist, hat die Regierung die Region noch für drei weitere Wochen abgeriegelt. Die Nerze werden dort von Spezialtruppen in Schutzanzügen vergast, mit Baggern in riesigen Massengräbern verscharrt oder verbrannt. Ihr Fell darf nicht verwendet werden. Im Süden ist die Situation anders: Wenn im Umkreis von 7,8 Kilometern keine Nachbarsfarmen Corona-Ansteckungen vermelden, dürfen die Nerzzüchter die Felle nach wie vor verwenden. Doch töten müssen sie trotzdem alle ihre Zuchttiere, was dem Ende der Industrie gleichkommt. Wir haben die Nerzfarm von Niels Kristensen und seiner Familie in Brørup besucht. Ob der Familienbetrieb die Felle ihrer 19'000 Nerze verwenden darf oder nicht, sollte sie im Laufe des Tages erfahren. Denn die Nachbarsfarm hatte einen Corona-Verdacht vermeldet.
Züchter verlieren ihr Lebenswerk
Um die Farm der Kristensens zu erreichen, holpert man lange über eine Schotterpiste – bis die Hofhündin Molly einen willkommen heisst. Ihr Fell hat die Farbe von flüssigem Karamell, doch gehäutet wird sie dafür nicht. Niels Kristensen ist einer von rund 1200 Nerzzüchtern in Dänemark. Schon seit seiner Geburt gibt es den Familienbetrieb im südlichen Jütland. Die Farm führt Niels mit seiner Freundin Sanne (30), seiner Mutter Bente (60) und seinem Vater Peter (62). Der dänische Novemberwind pfeift durch die Buchen, die die Farm säumen, und färbt die Wangen bei der Arbeit draussen rot. Die Familie hat viel zu tun: Wie jedes Jahr tötet sie Nerze. Doch statt der üblichen 80 Prozent sind es nun alle Nerze, die sterben. Und statt eines Monats bleiben der Familie dafür nur wenige Tage Zeit, damit sie von der Regierung den versprochenen Schnelligkeits-Zuschlag von umgerechnet 3 Franken pro Nerz als Entschädigung erhalten.
«Ab heute werden ungefähr zwei Drittel unserer Nerze tot sein», sagt Peter, der Vater von Niels. «Bereits am Samstag wird hier kein lebender Nerz mehr sein.» Seine Stimme bricht, mit Tränen in den Augen dreht er sich weg. Er will nicht weinen. Doch mit seinem gesamten Lebenswerk ist es nun vorbei, das weiss er ganz genau. «Ich hätte nie gedacht, dass es so endet», sagt er und kann das alles noch gar nicht fassen. Die Regierung verbietet die Nerzzucht zwar nicht, sondern will sie für vorerst bis und mit 2022 unterbrechen. Zudem wird sie die Züchter entschädigen, auch wenn noch nicht genau klar ist, wie. Aber das wahre Kapital einer jeden Nerzfarm sind nicht die toten Tiere, sondern die, die überleben.
Jedes Jahr im Sommer werden alle Tiere fein säuberlich gewogen, gemessen, ihr Fell kontrolliert. Nur die besten 20 Prozent überleben und dürfen im nächsten Jahr ihre Gene weitergeben. So funktioniert die Zucht. «Die Nerzbranche in Dänemark arbeitet eng zusammen», sagt Niels. «Dadurch haben wir es an die Weltspitze geschafft.» Niels zeigt den diesjährigen Zucht-Gewinner: ein grauer Nerz, so gross und flauschig, dass man ihn streicheln möchte. Ob er einen Namen habe? «Nein», antwortet Niels und lächelt. Auf einer Nerzfarm sind die Tiere eine Ware, ihr Fell das Endprodukt. Verliert ein gesamtes Land seinen genetischen Zuchtstamm, ist die Branche nicht mehr zu retten. Für die Familie Kristensen besteht der wahre Verlust also aus 32 Jahren Zuchterfolg. Auch die Nerzfutter-Firmen, die Häutungs-Farmen und die dänischen Pelzverkäufer werden eingehen. «Ich wünschte, wir könnten ein paar unserer Zuchttiere auf einer abgelegenen Insel isolieren und warten, bis die Pandemie vorüber ist», sagt Freundin Sanne.
Regierungsentscheid sorgt für Unmut
Wie sinnvoll sind die radikalen Massnahmen der Regierung? «Man kann noch nicht einschätzen, wie gefährlich die Mutation ist», sagt die deutsche Virologin Karin Mölling (77). «Darum ist es leider die richtige Massnahme.» Weil sich das Virus in den Nerzen nicht nur verändert, sondern in dieser neuen Form auch auf den Menschen zurückgesprungen sei, müsse die Ausbreitung unbedingt gestoppt werden. Dänische Forscher beschwichtigen hingegen: Es sei überhaupt noch nicht klar, wie gefährlich die Mutation tatsächlich sei. War es also eine Überreaktion der Regierung? Vor allem im abgeriegelten Nordjütland wird Kritik laut. «Es ist bereits einige Wochen her, seit die Mutation das letzte Mal festgestellt worden ist», sagt ein Security-Guard aus Aalborg. «Vielleicht ist sie bereits wieder ausgestorben.» Doch auch der Rest des Landes kritisiert die Vorgehensweise des Parlaments. Eine Buchhalterin aus Vejle sagt: «Ich bin zwar kein Fan der Nerzzucht, und die Mutation muss ernst genommen werden. Aber wie das alles abläuft, ist schrecklich.»
Corona-Mutation – Dänemark tötet Nerze
Die Regierung hält an den Massnahmen fest und appelliert an den Ernst der Lage. Doch mittlerweile musste auch sie zugeben, dass es das Epidemiegesetz nicht erlaube, auch gesunde Tiere zu töten. Das Parlament hätte dafür zuerst eine entsprechende Änderung beschliessen müssen. Viele Däninnen und Dänen fordern nun den Rücktritt des verantwortlichen Ministers. Auch im Parlament kam es zu einem Sturm der Entrüstung. Bei den Nerzzüchtenden hat sich die Regierung inzwischen brieflich für die vielen Missverständnisse entschuldigt. Niels sieht die Sache rational: «Es ist zwar nicht fair gelaufen, doch ob in einem Monat oder jetzt, die Regierung hätte es sowieso irgendwie durchgebracht, dass wir unsere Nerze töten müssen.» Er wolle nun immerhin sicherstellen, dass er den Schnelligkeits-Zuschlag erhalte.
Deshalb läuft das Töten heute auf Hochtouren. Rasend schnell pflücken Niels und sein Vater die Nerze aus ihren Käfigen wie Äpfel von einem Baum. Doch anstatt in einen Obstkorb lassen sie die Tiere direkt durch die Klappe der «Killing machine», des Todeswagens plumpsen. Dort erwartet die Nerze hochgiftiges Gas. Nach dreissig Sekunden seien die Tiere bewusstlos, nach einer Minute tot. Für Tierschützerin Helen Sandmeier vom Schweizer Tierschutz STS ist die Nerzzucht pure Tierquälerei: «Die Tiere werden unter erbärmlichsten Bedingungen in engen, dreckigen Drahtkäfigen gehalten und nach einem kurzen, qualvollen Leben auf brutale Weise getötet.» Wenn sie denn wirklich tot seien, wird ihnen das Fell über die Ohren gezogen.
Das Luxusprodukt von gestern
Gemäss Sandmeier gebe es keine artgerechte Haltung von Wildtieren wie Nerzen. In freier Wildbahn sind die Nerze Einzelgänger und beanspruchen ein Revier von bis zu 32 Hektar Grösse – also etwa 45 Fussballfelder. Auch Virologin Karin Mölling sieht in der Massenhaltung ein Problem: «Schon der Ausbruch in Wuhan ist durch Platzmangel, die räumliche Nähe und die kurzen Wege zwischen den Wirtstieren entstanden.» Wenn kein Virus grassiere, gäbe es kein Problem. «Doch das kann sich unter solchen Bedingungen rasend schnell ändern.»
Sanne von der Farm Kristensen ist Tierärztin. Sie erlebt den direkten Vergleich zur Schweine- und Kuhhaltung und kann bei der Nerzhaltung keinen Unterschied feststellen, sagt sie. Tierschützerin Sandmeier ist anderer Meinung. «Im Vergleich zu den sogenannten Nutztieren ist das Fell der Nerze ein Luxusprodukt, das niemand wirklich braucht», sagt sie. Eine Kleidershop-Besitzerin aus Aalborg, Suzan Darilmaz, hatte Pelz jahrelang in ihrem Sortiment. Doch ab nächstem Jahr möchte sie keine Fellprodukte mehr verkaufen. «Durch den Klimawandel werden die Winter hier im Norden viel milder. In der heutigen Zeit brauchen wir keinen Pelz mehr», sagt sie. Auf ihr Rest-Sortiment gewährt sie deshalb 50 Prozent Rabatt. Auch die Familie Kristensen bestätigt, dass die vergangenen Jahre nicht gut gelaufen sind. Denn wer kauft heute noch Pelz?
Anders als in Europa steige die Nachfrage nach Echtpelz in Ländern wie China, Korea, der Ukraine, auch in Südamerika ist er gefragt. «Die Pelzindustrie verkauft ihr Produkt durchaus erfolgreich als natürlich, grün und nachhaltig», sagt Sandmeier. Doch «Tierschutz»-Zertifikate der Firmen seien absolut nichts wert: «Das ist nichts weiter als Greenwashing eines Tierqualprodukts. Echtpelz aus artgerechter Produktion gibt es nicht», sagt Sandmeier. Sanne von der Nerzfarm hat es hingegen satt, dass Nerzfell von Tierschützenden als die ultimative Sünde und unnötiges Luxusprodukt betitelt werde: «Das ist heuchlerisch. Wir müssen schliesslich auch kein Fleisch essen oder Milch trinken, und diese Industrien bestehen trotzdem.»
Glück im Unglück
In Brørup klingelt das Telefon. Der Corona-Test auf der Nachbarsfarm war negativ. Die Kristensen dürfen die Felle ihrer Nerze also verkaufen. Endlich ein Aufatmen im Strudel der Ungewissheiten. Niels holt eine Flasche Sekt aus dem Haus. Die Familie versammelt sich für das Anstossen und ein Stück Kuchen am Gemeinschaftstisch, gleich neben den Maschinen, in denen die toten Nerze gereinigt werden. Die gedrückte Stimmung auf dem Hof hellt sich für einen Moment auf. «Nichts ist so schlimm, als dass es nicht noch schlimmer kommen könnte», sagt Mutter Bente so rau wie das dänische Wetter. Alle lachen, bevor die Runde wieder im Schweigen versinkt. Was die Familie ab Sonntag macht, wenn alle Nerze tot sind, weiss sie noch nicht. Niels – seine Freunde nennen ihn Niels Mink, das dänische Wort für Nerz – wird wieder als Zimmermann arbeiten müssen, obwohl er das nicht möchte. In den Ställen ist es bereits stiller geworden. Nur der namenlose, graue Zucht-Gewinner versteckt sich verängstigt in seinem Käfig, als wüsste er, was seinen Lebensgefährten zugestossen ist. Niels möchte ihn als Erinnerung behalten. «Ausgestopft, natürlich», sagt er.
Dänemark ist Weltmarktführer in der Nerzzucht: Auf rund 1200 Farmen leben 17 Millionen Nerze. In Europa ist die Industrie ganz unterschiedlich verteilt. In manchen Ländern wie der Schweiz gibt es gar keine Nerzfarmen mehr, während sie in anderen hochkonzentriert zu finden sind. Doch nirgendwo ist die Branche so bedeutend wie in Dänemark, wo Nerzpelze nach Schweinefleisch und Fisch der drittwichtigste Exportartikel auf Tierbasis sind. In der Hauptstadt Kopenhagen befindet sich auch das weltweit wichtigste Auktionshaus Kopenhagen Fur. Es hat einen Marktanteil von 70 Prozent der weltweit verkauften Nerzfelle und wird nun schliessen. Die Nerzindustrie beschäftigt nach Angaben des dänischen Branchenverbands rund 6000 Menschen. In den Pelzfarmen wird ausschliesslich der Amerikanische Nerz gehalten, da sein Fell wertvoller ist. Der Europäische Nerz ist schon fast ausgestorben; in ganz Europa soll es nur noch rund 500 Exemplare der Marderart geben.
Dänemark ist Weltmarktführer in der Nerzzucht: Auf rund 1200 Farmen leben 17 Millionen Nerze. In Europa ist die Industrie ganz unterschiedlich verteilt. In manchen Ländern wie der Schweiz gibt es gar keine Nerzfarmen mehr, während sie in anderen hochkonzentriert zu finden sind. Doch nirgendwo ist die Branche so bedeutend wie in Dänemark, wo Nerzpelze nach Schweinefleisch und Fisch der drittwichtigste Exportartikel auf Tierbasis sind. In der Hauptstadt Kopenhagen befindet sich auch das weltweit wichtigste Auktionshaus Kopenhagen Fur. Es hat einen Marktanteil von 70 Prozent der weltweit verkauften Nerzfelle und wird nun schliessen. Die Nerzindustrie beschäftigt nach Angaben des dänischen Branchenverbands rund 6000 Menschen. In den Pelzfarmen wird ausschliesslich der Amerikanische Nerz gehalten, da sein Fell wertvoller ist. Der Europäische Nerz ist schon fast ausgestorben; in ganz Europa soll es nur noch rund 500 Exemplare der Marderart geben.