Beim Angriff auf Kiew, bei der Stürmung der Ruine von Tschernobyl: Immer waren es Fallschirmjäger, die den russischen Truppen bei der Invasion in die Ukraine den Weg bereiten sollten. Ihr Aufgabe: die Offensive anführen, indem sie hinter der feindlichen Linie abgesetzt werden, und die Stellung halten, bis der Rest der Armee kommt.
Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden nur in drei Fällen russische Fallschirmjäger losgeschickt: beim Einmarsch in Ungarn 1956, beim Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 und jetzt bei der Invasion in die Ukraine.
Für den russischen Historiker Kamil Galeev (29), der am Wilson Center in Washington forscht, steht fest: «Fallschirmjäger kommen nur dann zu Einsatz, wenn sie keinen Widerstand von einer anderen regulären Armee erwarten.»
Denn Fallschirmregimenter glichen einer Bereitschaftspolizei und seien viel leichter ausgerüstet als ein Infanterieregiment. «Sie sind auch nicht dazu da, gegen eine Armee zu kämpfen. Sie sollen Meutereien und Rebellionen unterdrücken», schreibt Kamil Galeev auf Twitter.
«Ihre Hauptwaffe ist rein psychologisch»
Diese Elitetruppe hat laut Galeev in Russland einen grösseren Legendenstatus als jede andere Truppe. Es gebe keine andere Truppe mit einer so ausgeprägten Symbolik wie die Fallschirmjäger. Es handle sich meistens um gross gewachsene Soldaten, die furchteinflössend aussähen. Dazu viele Muskeln und grimmiger Blick.
Sie sollen Stärke demonstrieren. «Ihre Hauptwaffe ist rein psychologisch», schreibt Galeev. Ausgebildete und kampferprobte Einheiten würden die Fallschirmjäger belächeln und gar als Betrüger ansehen, eben als Möchtegern-Soldaten.
Kommandeur von Scharfschütze getötet
Deshalb folgert der Experte, dass der russische Präsident Wladimir Putin (69) die Ukraine fälschlicherweise als reine Rebellenprovinz eingeschätzt hatte. «Putin hält die blosse Existenz des Landes für eine Meuterei. Und wenn man einen Aufstand niederschlagen muss, schickt man die Bereitschaftspolizei.»
Die Fallschirmjäger hätten die Kontrolle über die wichtigsten Städte und logistischen Zentren übernehmen sollen, damit die Besetzung des Landes durch die Armee reibungslos vonstattengehen würde. Sie hätten aber nicht mit organisiertem Widerstand gerechnet. Galeev: «Die ukrainische Armee eröffnete das Feuer, worauf sie scheiterten. Und nach diesem ersten Fehlschlag war der ganze Plan gescheitert.»
Putin musste zudem einen weiteren Rückschlag verzeichnen: Andrej Suchowetski, Kommandeur einer Luftlandeeinheit, ist offenbar durch einen ukrainischen Scharfschützen getötet worden. Er war schon bei der Eroberung der Halbinsel Krim 2014 beteiligt.
Russland kurz vor dem Zusammenbruch
Galeev schätzt, dass Putin den Kriegseinsatz nicht wirklich geplant habe, sondern einfach mal mit nur einer Armeestaffel vorgestossen sei. «Putin erwartete, dass die ukrainische Armee kapituliert.»
Weil sein Plan gescheitert sei, habe Putin die Gewalt eskalieren lassen. Immer mehr werden Wohnhäuser zum Ziel des russischen Bombardements. Aber auch ein Studentenwohnheim und ein Geburtshaus sollen angegriffen worden sein.
Für Galeev stellt sich die Frage, wie lange die Ukrainer in der Lage sein werden, sich bis zum bevorstehenden Zusammenbruch Russlands zu behaupten. Galeev ist überzeugt: «Dieser wird viel früher eintreten, als die meisten erwarten.» (gf)