Es war eine besondere Schreckensmeldung in der Flut der vielen schlimmen Nachrichten: Am Donnerstag verkündete der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal (46) besorgt, dass russische Einheiten nach schweren Feuergefechten die Anlagen des Atomkraftwerks Tschernobyl eingenommen hätten.
Das havarierte Kraftwerk, das 1986 nach einer Explosion halb Europa verstrahlt hatte, in den Händen der Russen? Nicht nur für Schmyhal eine Horrorvorstellung. Es sei unklar, in welchem Zustand die Anlage sei. «Dies stellt heute eine der ernsthaftesten Bedrohungen für Europa dar», sagte er. Und warnte vor Provokationen von russischer Seite.
Auch die USA sind besorgt. Die Einnahme der Sperrzone des früheren Meilers und Festsetzung der Mitarbeiter dort sei eine «Geiselnahme», sagte die Sprecherin des Weissen Hauses, Jen Psaki (43). «Diese unrechtmässige und gefährliche Geiselnahme, die routinemässige Arbeiten zum Erhalt und zur Sicherheit der Atommüll-Einrichtungen aussetzen könnte, ist unglaublich alarmierend und sehr besorgniserregend», so Psaki.
Strahlenangriff unwahrscheinlich
Die Frage ist: Was haben die Russen mit der Anlage vor? Wollen sie den massiven Sicherheitsdeckel zerstören und erneut radioaktive Strahlung freilassen?
Auch bei NucNet, der unabhängigen Nuklear-Nachrichtenagentur in Brüssel, rätselt man. «Wir gehen davon aus, dass Tschernobyl für die Russen einen reinen PR-Wert hat», heisst es auf Anfrage von Blick. «Man kann bereits sehen, wie viel Aufmerksamkeit diese Nachricht erregt und welche Verunsicherung sie auslöst.»
NucNet gibt Entwarnung: «Es ist nicht ersichtlich, wie eine Freisetzung von Strahlung im russischen Interesse liegen könnte.» Eine Verstrahlung könnte das nur wenige Kilometer entfernte Belarus bedrohen oder – bei Westwind – auch Russland.
Der beschädigte Kernreaktorblock ist mit einer festen Abdeckung ummantelt. «Dieser Sicherheitsbehälter ist gegen alle denkbaren Naturereignisse für über 100 Jahre sicher», schreibt NucNet. Er könne nur durch schwere militärische Angriffe beschädigt werden.
Interesse an Stromverteilung
Dass die Russen Tschernobyl erobert haben, könnte darauf zurückzuführen sein, dass es auf dem Weg von Belarus nach Kiew liegt. Auf dieser Route sind die Truppen ins Land eingedrungen.
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Ihr Interesse an der Eroberung könnte darin liegen, dass sich auf dem Gelände eine Stromverteilung für die ganze Region befindet. Das schreibt Juliette Kayyem (52), Sicherheitsanalystin bei CNN und früher Mitarbeiterin der US-Botschaft in Kiew.
Bisher, so NucNet, habe man keine grössere Freisetzung von Strahlung feststellen können. Es hat aber eine erhöhte Radioaktivität gegeben. Diese ist auf die schweren Militärfahrzeuge zurückzuführen, die radioaktiven Staub aufgewirbelt haben.
Die Eroberung könnte aber auch einen anderen, sogar guten Grund haben: Die Russen haben die vernachlässigte Ruine erobert, um sie wieder sicherer zu machen.