Der Ukraine stehen bange, vielleicht sogar kriegsentscheidende Wochen bevor. Zwar haben die USA eben ein 61 Milliarden Dollar schweres Hilfspaket geschnürt. Doch bis die Waffen und die weitere Unterstützung eintreffen, wird einige Zeit vergehen. Und genau diese Zeit wird der russische Präsident Wladimir Putin (71) laut Beobachtern für eine Grossoffensive nutzen. Bereits sind Vorboten des geplanten Grossangriffes sichtbar.
Zwei hochrangige ukrainische Geheimdienstmitarbeiter sagten gegenüber der «Financial Times», dass die derzeitigen Angriffe Russlands auf Schlüsselbereiche der Frontlinie sowie die Raketen- und Drohnenangriffe auf Charkiw und ähnlich wichtige Städte als «Aufweichung des Schlachtfeldes» zu werten seien. Sie rechneten mit einem Angriff Ende Mai oder im Juni.
Russen suchen Schwachstellen
Ralph Thiele (70), Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von Eurodefense Deutschland, bestätigt diese Einschätzung. Er sagt gegenüber Blick: «Eine pulsierende Offensive läuft schon an praktisch den gesamten Tausend Front-Kilometern. Sie testet mit vielen Nadelstichen die Festigkeit des Widerstands und sucht nach Schwachstellen.»
Offenbar seien die Russen an mehreren Stellen fündig geworden. Besonders im Raum Donezk seien sie tief in die ukrainischen Verteidigungsstellungen eingedrungen, sagt Thiele. «Ein russischer Keil in der Donbass-Front scheint möglich.»
Gegenüber der «Bild»-Zeitung sagte ein ukrainischer Armee-Lieferant, er befürchte einen Angriff auf Charkiw «mit 20’000 bis 40’000 Mann». Und er vermute, dass sich die Ukrainer dann entscheiden müssten, ob sie den Norden oder den Osten – also die Region um Charkiw oder den Donbass – verteidigen wollten. Der Lieferant ist überzeugt: «Beides zu verteidigen, geht nicht.»
Auf der russischen Seite gibt man sich siegessicher und übt sich in Kriegsgeschrei. Trotz Milliardenhilfe aus den USA könne die Ukraine eine Niederlage nicht verhindern, sagte Dmitri Poljanski, russischer Uno-Botschafter in New York. Auf X drohte er: «Tausende Ukrainer werden durch den Fleischwolf gehen.»
Angst in der Ukraine
Auf der ukrainischen Seite hingegen ist der Optimismus verschwunden. Kommandanten an der Front warnen und reden von einem Horrorszenario, das auf sie zukomme. «Bis im Oktober erobern die Russen den Donbass, dann friert der Konflikt ein und wir müssen mit Putin verhandeln», sagt einer von ihnen gegenüber Blick.
Doch das sei noch nicht alles. Der Kommandant, der anonym bleiben will, ist überzeugt: «Die Russen werden uns zwingen, als Teil ihrer Armee gegen euch Europäer anzustürmen.» Solche bedrohlichen Aussagen werden allerdings von ukrainischer Seite oft gebraucht, um den Westen zu sensibilisieren und die Hilfslieferungen zu beschleunigen.
Auch neutrale Beobachter sind besorgt
Was sagen neutrale Beobachter zu den Erfolgschancen der Ukrainer? Das Institute for the Study of War schreibt dazu: «Die Fähigkeit der Ukraine, sich gegen russische Offensivoperationen zu verteidigen, ist in hohem Masse sowohl von der Bereitstellung militärischer Hilfe durch die USA als auch von den Bemühungen der Ukraine abhängig, bestehende Einheiten wiederherzustellen und neue zu schaffen.»
Mit beidem ist man auf guten Weg: Vor wenigen Tagen haben die USA grünes Licht für die Milliardenlieferung erteilt und die Ukraine hat das Alter für einen Kriegseinsatz um zwei Jahre auf 25 herabgesetzt, um eine halbe Million neue Soldaten rekrutieren zu können. Die Frage ist allerdings, wie lange es geht, bis die Massnahmen greifen.
Ralph Thiele ist mit Blick auf die Ukraine pessimistisch. «Ohne ausreichende Munition und ohne hinreichenden Schutz aus der Luft kämpfen erschöpfte ukrainische Soldaten gegen einen zahlenmässig vielfach überlegenen Gegner, der es jetzt wissen will.»
Auch wenn es sich bei den russischen Erfolgen bislang nur um taktische Erfolge, also um Siege in einzelnen Gefechten, handle, könnte dies der Anfang vom Ende eines kohärenten ukrainischen Widerstands sein. Thiele: «Wenn sich dies fortsetzt, drohen bedeutende Durchbrüche der russischen Aggressoren.»