Die ukrainischen Streitkräfte stecken aktuell wohl in ihrer schwierigsten Lage seit Kriegsausbruch im Februar 2022.
Die Waffen- und Munitionsbestände gehen langsam aber sicher zur Neige. Mit neuen Waffenlieferungen aus den USA ist aktuell jedoch nicht zu rechnen und kompensiert werden kann die Lücke von den europäischen Partnern längst nicht.
Motivationsverlust als Risiko für Kriegsniederlage
Auch die viel gepriesene Gegenoffensive der Ukrainer vom vergangenen Jahr entpuppte sich letztlich als wenig effektiv, um Russland aus den eingenommenen Gebieten zu verjagen. Bitter für Kiew: Eine ebensolche grossangelegte Offensive für den kommenden Sommer scheint nun auch der Kreml zu planen.
Angesichts dieser enormen Bedrohungen für die Ukraine mehren sich die Stimmen, die dem Land eine schwere Zukunft auf dem Schlachtfeld voraussagen. So etwa der ehemalige Chef des Strategic Command der britischen Streitkräfte, General Richard Barrons (64), der kürzlich gegenüber der BBC sagte, es bestehe «ein ernsthaftes Risiko», dass die Ukraine den Krieg in diesem Jahr verlieren könnte.
Dieser Fall drohe vor allem dann, wenn «die Ukraine das Gefühl bekommen könnte, nicht gewinnen zu können», so Barrons. «Wenn es so weit ist, warum sollten die Menschen dann noch länger kämpfen und sterben wollen, nur um das Unverteidigbare zu verteidigen?»
Russische Sommeroffensive könnte entscheidend sein
Zwar betont der ehemalige General, dass die Ukraine derzeit noch nicht an diesem Punkt sei. Aus den Worten Barrons ist jedoch herauszulesen, dass einem bevorstehenden Motivationstief nicht mehr allzu viel im Wege stehen dürfte.
Besonders der Ausgang der Sommeroffensive könnte darüber entscheiden. «Die Form der russischen Offensive, die kommen wird, ist ziemlich klar. Wir sehen, wie Russland an der Frontlinie zuschlägt und dabei einen Fünf-zu-Eins-Vorteil bei Artillerie und Munition sowie einen Überschuss an Menschen einsetzt, der durch den Einsatz neuerer Waffen verstärkt wird.» Nicht auszuschliessen also, dass es den russischen Streitkräften in naher Zukunft gelingen könnte, die ukrainische Linie zu durchbrechen.
Auch Jack Watling, Senior Research Fellow für Landkriegsführung beim Whitehall Thinktank Royal United Service Institute, blickt mit Sorge auf die kommenden Monate. «Eine der Herausforderungen für die Ukraine besteht darin, dass die Russen wählen können, wo sie ihre Truppen einsetzen. Es handelt sich um eine sehr lange Frontlinie und die Ukrainer müssen in der Lage sein, sie in ihrer Gesamtheit zu verteidigen», sagt er zur BBC.
«Charkiw ist mit Sicherheit verwundbar»
Watling und Barrons heben besonders ein Ziel hervor, bei dem sich das Kriegsgeschehen intensivieren dürfte. «Charkiw ist mit Sicherheit verwundbar.» Als zweitgrösste Stadt der Ukraine, die zudem gefährlich nahe an der russischen Grenze liegt, sei Charkiw ein verlockendes Ziel für den Kreml. Derselben Meinung ist auch Ex-General Barrons. «Ich denke, dass das erste Ziel der diesjährigen Offensive der Ausbruch aus dem Donbass sein wird.» Dabei werde Russlands Augen vor allem auf Charkiw gerichtet sein.
Sollte die Stadt tatsächlich fallen, wäre das gemäss den beiden Experten ein katastrophaler Schlag für die Moral und die Wirtschaft der Ukraine. Es sei daher nicht auszuschliessen, dass Russlands strategisches Ziel in diesem Jahr allein von territorialer Natur ist.
Gefühl der Hoffnungslosigkeit erzeugen
Vielmehr könnte es dem Kreml darum gehen, den Kampfgeist der Ukraine endgültig zu brechen und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu erzeugen. Allerdings: «Die russische Offensive wird den Konflikt nicht entscheidend beenden, unabhängig davon, wie sie für beide Seiten ausgeht», ist sich Barrons sicher.
«Ich denke, das wahrscheinlichste Szenario wird sein, dass es den Russen zwar gelingen wird, Fortschritte zu machen, jedoch werden sie nicht vollständig durchbrechen.» Die diesjährige Offensive dürfte dennoch erfolgreicher verlaufen als die von vergangenen Jahr. «Der Krieg wird sich zu Russlands Gunsten gewendet haben.»