Er hatte es sich so einfach vorgestellt. Truppen hinschicken, ein paar Tage Krieg – und das Land wäre besiegt. Doch Wladimir Putins (69) Plan ging nicht auf.
Der Kremlchef hat sich gewaltig in der Ukraine getäuscht. Der Widerstand ist gross. Die Russen kommen kaum vorwärts. Besonders die grossen Städte wie Kiew sind hart umkämpft.
Dass sich die Ukrainer tatsächlich so gut gegen die Russen wehren, liegt zum grossen Teil an Waleri Saluschni (48). Er ist der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. Die Aufgaben sind klar verteilt. Wolodimir Selenski (44) kümmert sich als Präsident um die mediale Inszenierung, Saluschni um die Front.
Ukraine hatte eine dysfunktionale Kommandostruktur
Er weiss, wie die Russen ticken, kämpfte bereits auf der Krim gegen Putin. Und: Er hat die Armee in der Ukraine modernisiert. Unter anderem den Offizieren mehr Freiheiten erteilt und damit die Befehlskette entspannt.
Und nicht nur das: Soldaten brauchen auch nicht mehr die Erlaubnis ihrer Vorgesetzten, um an der Front zu schiessen. «Bis zu dem Zeitpunkt hatte die Ukraine eine komplett dysfunktionale Kommandostruktur», sagt Sarah Whitmore, Dozentin für Politikwissenschaft an der britischen Universität Oxford Brookes, zur «NZZ».
Dabei ist Saluschni nicht mal seit einem Jahr im Amt. Erst im letzten Juli wurde er zum höchsten Offizier ernannt. Ein Glücksfall für Selenski. Er ist zwar auf dem Papier der höchste Oberbefehlshaber der Armee, in Wahrheit zieht aber Saluschni die Strippen.
Kein Wunder: Er ist kampferfahren – der ukrainische Präsident nicht. «Ich möchte mir nicht ausmalen, wie der Krieg jetzt aussähe, wenn die Ukraine immer noch das Team vom letzten Juli an der Spitze des Militärs hätte», so Whitmore weiter.
«Krieg in der Stadt ist der grosse Gleichmacher»
Mit einer entspannten Befehlskette und Soldaten, die auch ohne Befehl von ganz oben schiessen dürfen, können sich die ukrainischen Truppen gerade in den Städten gut gegen die Russen wehren. Viele Häuser, enge Strassen und Verstecke machen es für die Angreifer schwer. «Krieg in der Stadt ist der grosse Gleichmacher. Er neutralisiert die Vorteile, die eine militärische Grossmacht besitzt», sagt John Spencer, ehemaliger Major der US-Armee, zum «Spiegel».
Ziel sei es, den Feind von der Ferne aus zu töten. Zum Beispiel mit Raketen. In der Stadt sei dies aber nur schwer möglich, da es viele Verstecke gibt. Spencer: «Im offenen Feld müssen sich Soldaten erst einmal ihre Verteidigungsstellungen selbst bauen: Bunker zum Beispiel oder Schützengräben. In der Stadt erübrigt sich das.» Die Ukrainer können die Russen aus ihren Verstecken ins Visier nehmen. Zumal sich die Soldaten in kleineren Truppen aufspalten müssen. Einfach so mit Tausend Mann einmarschieren, geht nicht. Das wäre zu gefährlich.
Russische Armee ist unfähig
Währenddessen meldet sich der ukrainische Präsident immer wieder zu Wort. Nicht von irgendwo, sondern mitten aus dem Kriegsgebiet. Selenski gibt sich kämpferisch. «Ich bin hier. Wir werden unsere Waffen nicht niederlegen», sagte er zum Beispiel in einer seiner vielen Videobotschaften. Gleichzeitig betont er aber auch, dass er bereit sei, mit Putin zu sprechen, um den Krieg zu beenden.
Überhaupt setzen die Ukrainer in dem Krieg die Macht der Bilder und Videos perfekt ein. Die Welt soll sehen, was passiert.
Einerseits werden die brutalen Angriffe der Russen auf Zivilisten dokumentiert, wie zum Beispiel die Bombardierung eines Kinderspitals in der Hafenstadt Mariupol. Andererseits inszenieren sie sich als tapfere Kämpfer, die sich gegen Putins Armee stellen. Die Russen werden dabei als brutal, aber auch unfähig dargestellt. Ihr Angriffskrieg ist geprägt von einer Pannen-Serie. Ihr Konvoi bleibt im Schlamm stecken, Soldaten sind offenbar schlecht ausgebildet, und die Ausrüstung scheint mangelhaft.
Putin belügt das Volk und lässt Demonstranten verhaften
Während Selenski klar kommuniziert und sich immer wieder zu Wort meldet, verfolgt Putin eine ganz andere Strategie. Er will, dass die Russen nichts vom Krieg mitbekommen und nennt die Offensive eine «Spezialoperation».
Das Wort Krieg darf nicht verwendet werden. Wer sich nicht daran hält, dem droht Knast. Das russische Parlament hatte vor kurzem ein Gesetz verabschiedet, das bis zu 15 Jahre Haft für die Verbreitung von «Falschnachrichten» über das Militär vorsieht. Demonstranten gegen den Krieg werden rigoros verhaftet und weggesperrt.
Laut der Bürgerrechtsplattform OWD-Info gab es seit dem 24. Februar in Russland mehr als 14'800 Festnahmen im Zuge von Kundgebungen gegen den Konflikt mit der Ukraine. Allein am Sonntag vergangener Wochen waren demnach landesweit mehr als 5000 Demonstranten festgenommen worden. (jmh)