Es war ein beispielloser Schlag Israels gegen die libanesische Terrormiliz Hisbollah. Am Freitag wurde der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah (†64) bei einem gewaltigen israelischen Luftangriff auf einen Bunker in einem Viertel von Beirut getötet. Er hatte die Miliz seit Anfang der 1990er-Jahre massgeblich geprägt.
Nun braucht die Terrororganisation einen neuen Chef. Hoch im Kurs für Nasrallahs Nachfolge steht sein Cousin: Hashem Safieddine (60) ist einer der wenigen verbliebenen hochrangigen Hisbollah-Führer, die sich beim Angriff vom Freitag nicht in den Bunkern befanden, der von den Israelis bombardiert wurde.
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Nahostexeperte Erich Gysling (88) ist sich sicher, dass die Zeiten für den mutmasslichen neuen Hisbollah-Chef alles andere als sicher sind. «Jetzt hat Hashem Safieddine eine Zielscheibe auf dem Rücken. Heisst: Er könnte auf Israels Todesliste ganz oben stehen», sagt Gysling zu Blick.
Ein schwerer Schlag, aber ...
Der Hintergrund sei der Umstand, dass der Tod von Hassan Nasrallah der Terrormiliz zwar einen schweren Schlag versetzt habe, die Hisbollah aber nicht zerschlagen werde, so Gysling. «Es besteht die Möglichkeit, dass es eine Pause in den Aktionen gibt, aus Erfahrung wissen wir aber, dass solche Organisationen wieder zurückkommen.»
Nach kurzer Zeit werde die Situation aber wieder ähnlich sein, wie vor Nasrallahs Tod. «Unter Umständen mit noch extremeren und radikaleren Leuten an der Spitze der Organisation», so der Nahostexperte.
Das sieht Nahostexperte und Spiegel-Autor Richard C. Schneider ähnlich. «Die Tötung von Hassan Nasrallah ist für Israel ein grosser militärischer Erfolg. Nasrallah war ein sehr erfahrener Anführer. Sein Tod versetzt die Hisbollah ins Chaos», sagt er zu Blick. Dennoch dürfe man nicht den Fehler machen, zu glauben, dass die Hisbollah nun weniger gefährlich sei. «Die Gefahr ist für Israel noch nicht vorbei, auch wenn die Organisation stark geschwächt ist.»
Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London, traut der Hisbollah weitaus weniger zu. «Die einst so mächtige, stolze Terrormiliz ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie ist nicht nur militärisch geschwächt, sondern führerlos und vollständig kompromittiert.» Es wird Jahre dauern, bis sie sich erholt hat.
Strategie der gezielten Tötungen
Erich Gysling glaubt dennoch daran, dass auch nach dem Tod von Hassan Nasrallah mit weiteren gezielten Tötungen zu rechnen ist. «Das scheint Israels Strategie zu sein. Die Führungsriege einer Terrororganisation wird regelmässig ins Visier genommen.»
Das heisst für den künftigen Hisbollah-Chef, aber auch für Yahya Sinwar (61), den Chef der palästinensischen Terrororganisation Hamas: Sie leben sehr gefährlich. «Was niemand weiss: Wie viele und wie gute Informationen die Israelis über die verbliebene Kommandostruktur der Hisbollah haben», sagt Gysling. Je nachdem könnte es schon bald weitere Schläge gegen die Miliz geben. Dafür spricht, dass Israel bereits am Samstag Nabil Kauk, den Kommandanten der Sicherheitsabteilung der Hisbollah, bei einem gezielten Luftangriff getötet hat.
Auch Richard C. Schneider sieht kein Ende der gezielten Tötungen. «Israel wird versuchen, das Momentum zu nutzen.» Wem man habhaft werden könne, den ziehe man aus dem Verkehr. «Wenn Israel es schafft, auch Nasrallahs Nachfolger zu töten, so wäre dies ein noch grösserer psychologischer Schlag gegen die Hisbollah.»
Für den Nahostexperten Gysling gibt es dabei aber ein grosses Problem: «Und zwar, dass diese Strategie nur sehr begrenzt erfolgreich ist», sagt er. Die Erfahrungen im Gazastreifen hätten gezeigt, dass sich schnell Nachwuchs finden lasse. «Es ist zu vermuten, dass die Gesamtzahl der Kämpfer der Hamas heute nicht viel geringer ist, als zu Beginn des Konflikts.»
Kommt die Invasion im Libanon?
Sicherheitsexperte Peter Neumann glaubt eher an eine andere Entwicklung. «Für Israel muss die Versuchung gross sein, jetzt die lang erwartete Bodenoffensive im Süden des Libanons zu starten.»
Der Zeitpunkt wäre gemäss Neumann gut. «Die Hisbollah ist so schwach, dass sie den Israelis kaum etwas entgegenzusetzen hätte.» Das Zurückdrängen der Hisbollah nach Norden würde dazu führen, dass der Norden Israels deutlich sicherer werden würde. «Ein Grossteil der Hisbollah-Raketen könnten das Land nicht mehr erreichen. Für viele Israelis ist eine Bodenoffensive deshalb logische Konsequenz», so Neumann.
Doch eine Invasion brächte auch Risiken mit sich. Sicherheitsexperte Neumann warnt deshalb vor einem Einmarsch, vor allem weil Israel dann zur Besatzungsmacht im Libanon werden würde. «Der Iran hätte dann eine Ausrede, den militärischen und politischen Druck auf Israel weiter zu erhöhen.»
Der Vorteil durch die Tötung von Nasrallah sollte deshalb anderweitig genutzt werden. «Israel hat aktuell die Chance, einen für sich vorteilhaften Waffenstillstand zu verhandeln und einen strategisch bedeutsamen Sieg zu erringen», betont Neumann. Heisst: Statt im Libanon einzumarschieren, sollte Israel einen Rückzug der Hisbollah hinter den Litani-Fluss nach Norden am Verhandlungstisch erreichen.