Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) holt zum verdeckten Leberhaken aus. Sein Ziel: Vitali Klitschko (51). Das Staatsoberhaupt wirft dem Kiewer Bürgermeister Nachlässigkeit vor.
Hintergrund der verbalen Attacke ist ein Raketenangriff in Kiew am Donnerstag. In den frühen Morgenstunden sind drei Menschen – darunter ein neunjähriges Mädchen und ihre Mutter – durch herabfallende Trümmerteile getötet worden. Die Opfer warteten vergeblich auf die Öffnung eines Schutzbunkers. Zeugen zufolge war der Wachmann betrunken und öffnete die Türe nicht.
«Es tut weh, die Opfer zu sehen»
Selenski hat keine Zweifel, wessen Schuld dieses Versäumnis in letzter Instanz ist: «Es ist die Pflicht der lokalen Behörden, eine ganz besondere Pflicht, dafür zu sorgen, dass Schutzräume rund um die Uhr verfügbar und zugänglich sind», sagte der Präsident in einer Video-Ansprache auf Telegram am Donnerstagabend. «Es ist schmerzlich, die Vernachlässigung dieser Pflicht zu sehen. Es tut weh, die Opfer zu sehen.»
Selenski nannte keine Namen. Dass er aber so deutlich die Rolle der lokalen Behörden betont, offenbart, wem er die Schuld für diese Tragödie in die Schuhe schiebt: Vitali Klitschko.
Burgfrieden bröckelt schon länger
Das Verhältnis zwischen Klitschko und Selenski ist seit jeher angespannt. Bereits nach Selenskis Amtsantritt 2019 forderte der damalige Chef des Präsidentenbüros, Andrij Bohdan (45), den Rücktritt des Hauptstadtbürgermeisters, der seit 2014 im Amt ist. «Er hat die Kontrolle über die Situation in der Stadt im Verlaufe der letzten fünf Jahre verloren», sagte Bohdan damals. Eine Degradierung hat Klitschko gemäss Medienberichten durch seine Kontakte zum Selenski-Vertrauten Andrij Jermak (51) verhindert.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine galt in Kiew ein stillschweigend vereinbarter Burgfrieden zwischen Selenski und Klitschko. Doch Selenski warf diesen Burgfrieden bereits vergangenen Herbst über Bord, als er den Kiewer Bürgermeister nach Raketenangriffen auf die Infrastruktur gerügt hatte.
Klitschko kontert Kritik
Vitali Klitschko liess den jüngsten Vorwurf nicht auf sich sitzen. Am Freitag konterte der Kiewer Bürgermeister auf Telegram: «Hier geht es um gemeinsame und faire Verantwortung.» Er betont, dass die Leiter der Kiewer Stadtbezirke direkt von Selenski ernannt werden.
Die ukrainische Hauptstadt litt zuletzt unter regelmässigen und intensiven Beschüssen Russlands. Im Mai wurden so viele Raketen, Marschflugkörper und Drohnen auf Kiew abgefeuert wie noch nie seit Kriegsbeginn. Die Luftverteidigungssysteme funktionieren zwar gemäss Militärverwaltung einwandfrei, allerdings können Raketentrümmer herabfallen und die zivile Bevölkerung gefährden.
Klitschko, der die Unfallstelle in Desna am Donnerstag besichtigte, mahnte: Ende Juni laufe das Budget für die Luftschutzbunker in Kiew aus. Es bestehe dringender Handlungsbedarf. Warum es den drei Todesopfern vom Donnerstag mutmasslich nicht gelungen sei, in den Bunker zu kommen, werde nun untersucht. Zudem kündigte Klitschko an, auch in allen anderen Bezirken die Schutzbunker überprüfen zu lassen.