Schlechter Militärstratege oder Opfer seiner Machtobsession? Kreml-Herrscher Wladimir Putin (70) hat praktisch die gesamte Kampfkraft der russischen Streitkräfte in die Ukraine geworfen. Er träumt vom neuen, grossen Reich Russlands. Dies zu einem enormen Blutpreis – während auch die Landesgrenzen offenbar nur noch sporadisch abgesichert bleiben. Russlands Militär ist in der Ukraine beschäftigt. Das zeigt Putins Versagen als Kriegsführer auf. Die russische Grenzsicherung wurde auf ein paar wenige Soldaten beschränkt. Das nutzt die Ukraine jetzt eiskalt aus – womöglich als Part der lange angekündigten Frühlingsoffensive.
Seit Montag herrscht auch in Russland Krieg. Russische Anti-Putin-Verbände haben in der Grenzregion Belgorod mehrere Dörfer eingenommen und liefern sich schwere Gefechte mit der russischen Armee. Dies sind nicht irgendwelche Spontanattacken von nationalistischen Freischärlern und Partisanen. Die meisten der Milizionäre sind zwar Russen und erklärte Guerillas. Aber sie tragen ukrainische Kampfanzüge, sind mit Nato-Standardgewehren bewaffnet und in gepanzerten US-Humvees unterwegs.
Die Manöver aus der Ukraine stürzen Putin ins Dilemma. Der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte hat sein Land geschwächt. Wenn Putin keine Truppen nach Russland zurückverlegt, um eigenes Hoheitsgebiet zu verteidigen, zeigt er seinem Volk, dass er nicht einmal die eigene Grenze verteidigen kann. Wenn er aber Truppen an die Grenze verlegt, schwächt er die eigenen Verteidigungspositionen an der Front. Dies zu einem Zeitpunkt, wenn die Ukraine daran ist, mit der Frühjahrsoffensive loszulegen.
Guerilla-Störaktion mit klarem Ziel
Die russische Provinzregierung von Belgorod hatte am Montag schnell ein Antiterrorregime ausgerufen. Doch es fehlen Soldaten und Kampfgerät. Die bunt zusammengewürfelte Truppe der Invasoren errichtete in der Nacht auf Dienstag Stellungen in den «befreiten» Gebieten und hielt diese zunächst – obwohl russische Medien bald meldeten, dass die «Saboteure vollständig vernichtet» worden seien, so die «Komsomolskaja Prawda». Das Moskauer Verteidigungsministerium spricht von der «Zerstörung von mehr als 70 ukrainischen Terroristen, vier gepanzerten Kampffahrzeugen und fünf Pickups».
Die Oblast-Verwaltung hob die Anti-Terror-Operation am späten Dienstag auf, doch in der Nacht auf Mittwoch donnerten in Belgorod weiter Explosionen. Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow (54) bestätigte auf Telegram einen Drohnenanschlag. Es bleibt unklar, ob die «Anti-Terror-Operation» der Russen die Partisanen vollständig zurückschlagen konnten. Die Guerillas an der südlichen Grenze mit feindlicher schwerer Artillerie, Panzerwagen und Kampffahrzeugen stellen eine neue Bedrohung für den Kreml dar.
Das Ziel der Belgorod-Störaktion ist klar: Die Ukraine will bis nach Moskau Chaos verursachen, Truppen ablenken, den Feind demotivieren und ihn zwingen, Ressourcen zu vergeuden. Dass die Paramilitärs der Legion Freies Russland und des Russischen Freiwilligenkorps dabei gemeinsame Sache mit der offiziellen Ukraine machen, scheint trotz Dementi aus Kiew erwiesen.
Bolgorod-Überfall von Kiew abgesegnet
Die ukrainische Onlinezeitung «Strana» berichtet, dass die Führer der Widerstandsgruppen am 17. Mai in Kiew waren, auf Besuch beim militärischen Geheimdienst (GUR). Ein Bild zeigt die beiden auf der Rybalskyj-Insel in Kiew, gleich beim GUR-Hauptquartier.
In der Ukraine will man wissen, dass der Geheimdienst die Belgorod-Attacke fünf Tage vor dem Einmarsch nach Russland absegnete. Über ihre Telegram-Kanäle liessen die beiden Widerstandsgruppen erklären, dass sie ihre Differenzen beiseitelegen und jetzt «gemeinsame Sache» machen, deren Ergebnisse bald folgen.
Schon nach einer ersten Attacke über die Grenze im März auf die russische Region Brjansk hatte Legion-Freies-Russland-Führer Denis Kapustin (52) in einem Interview mit der «Financial Times» bestätigt, dass Kiew direkt an der Aktion beteiligt war. (kes)