Die Invasion der Ukraine hatte sich Kreml-Chef Wladimir Putin (69) ganz anders vorgestellt. Truppen hinschicken, ein paar Tage Krieg – und das Land wäre besiegt. Doch sein Plan ging nicht auf. Schliesslich musste der russische Präsident einsehen, dass er nicht in wenigen Wochen die ganze Ukraine einnehmen kann. Also legte er den Fokus auf die Ostukraine.
Nach Startschwierigkeiten scheint die neue Taktik für Russland jetzt aufzugehen. Die Angreifer kontrollieren bereits 97 Prozent der Provinz Luhansk. Die Kämpfe konzentrieren sich jetzt noch auf einen «Kessel» von 40 mal 40 Kilometern. Die Städte Artemiwsk, Popasna, Sewersk und Sjewjerodonezk bilden dabei die entscheidenden Eckpunkte.
Vor allem die Schlacht um Sjewjerodonezk dürfte entscheidend sein, glaubt Militärstratege Markus Reisner (44). «Wenn nicht noch etwas Einschneidendes passiert, werden die Russen es schaffen, den Kessel zu schliessen», sagt der Oberst im österreichischen Verteidigungsministerium im Gespräch mit der «Welt».
Heftige Angriffe in der Nacht
Für den Erfolg Russlands in der Ostukraine macht Reisner drei Taktiken verantwortlich, die Putins Kämpfer jetzt anwenden.
Erstens: Die ukrainischen Stellungen werden jeweils in der Nacht durch heftiges Artilleriefeuer, Bomben und Raketen beschossen. Am nächsten Morgen rückt dann die Infanterie, geschützt von Panzern, zu den Stellungen vor.
«Wenn es den Russen dann gelingt – wie kürzlich in der Gegend um die Stadt Popasna – die Stellungen der Ukraine an einem einzelnen Punkt zu zerstören, so benutzen sie dies als Einbruchstelle», erklärt Reisner. Dort dringen die Angreifer dann ein und versuchen, die Ukrainer in den Schützengräben zu töten.
Zweitens: Russland setzt ballistische Raketensysteme wie Iskander-M ein. «Sie fliegen bis zu 500 Kilometer weit und zerstören Waffenlager, Treibstoffdepots, aber auch Kasernen und die ukrainische Kommandostruktur», sagt Reisner zu den Raketen. «Das ist verheerend.»
Ausgeklügelte Luftwaffen-Taktik
Laut dem Militärstrategen hat Russland erst kürzlich eine Iskander-Brigade nach Belgorod nahe der ukrainischen Grenze verlegt. Seitdem würden bei Kramatorsk oder auch Slowjansk immer wieder Raketen und Marschflugkörper in den Kessel hineingeschossen werden.
Drittens: Auch wenn Russland nicht über die Lufthoheit in der Ukraine verfügt, nutzen die Invasoren ihre überlegene Luftwaffe aus.
Oberst Reisner erklärt: «Die Taktik ist dabei, dass die russischen Flugzeuge oder Helikopter ganz tief über dem Boden fliegen und völlig überraschend auftauchen, sodass die ukrainischen Soldaten sie erst sehr spät wahrnehmen. Die Flugzeuge kommen im Tiefflug und werfen die Bomben dann in der aufsteigenden Bewegung ab.»
Düsterer Ausblick für Ostukraine
Damit konnte Russland bereits grosse Gebietsgewinne verzeichnen. «Bis jetzt 25 Prozent der Ukraine», präzisiert Markus Reisner. Die Lösung gegen den Vormarsch wären ihm zufolge westliche Waffenlieferungen. Diese hätten aber «viel zu spät begonnen, und darum kommen die schweren Waffen jetzt nicht mehr rechtzeitig ans Ziel».
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Für die Ostukraine steht es derzeit somit schlecht. Reisner glaubt, dass die Russen bis Anfang Herbst den gesamten Donbass kontrollieren wollen. Danach wäre eine Feuerpause denkbar. «Ich erwarte, dass beide Seiten dann im kommenden Frühling versuchen werden, eine Offensive zu starten.» (obf)