Missbrauchsfall Pelicot
«Es gibt ein Davor und ein Danach»

Der Vergewaltigungsprozess von Avignon hat die Welt erschüttert. Gisèle Pelicot ist zu einer Ikone der feministischen Bewegung geworden.
Publiziert: 22.12.2024 um 20:09 Uhr
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Gisèle Pelicot wurde während fast zehn Jahren von ihrem Mann und Dutzenden anderen Männern sediert und vergewaltigt.
Foto: AFP

Auf einen Blick

  • Historischer Vergewaltigungsprozess in Avignon: Hauptangeklagter zu 20 Jahren Haft verurteilt
  • Auch gegen die 51 Mitangeklagten wurden Haftstrafen verhängt
  • Gisèle Pelicot wurde zur Ikone der feministischen Bewegung
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Sara BelgeriRedaktorin

Der Missbrauchsfall von Avignon wird in die Geschichtsbücher eingehen. Es ist ein Prozess, der Frankreich und die ganze Welt erschüttert hat. Nach 69 Tagen stand am Donnerstag das Urteil fest: Der Hauptangeklagte, Dominique Pelicot, wurde wegen schwerer Vergewaltigung schuldig gesprochen. Das Gericht verhängte die Höchststrafe von 20 Jahren für den 72-Jährigen.

Während fast eines Jahrzehnts hatte Dominique Pelicot seine Ehefrau Gisèle Pelicot betäubt, missbraucht und im Internet anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Pelicot filmte die Taten, wodurch 51 von mutmasslich 83 Tätern identifiziert und mitangeklagt werden konnten.

Taten wurden zufällig aufgedeckt

Gemäss Gisèle Pelicot galten sie bei Freunden als «perfektes Paar». 50 Jahre lang waren sie und Dominique Pelicot verheiratet gewesen. Er ist der Vater ihrer drei Kinder, einer Tochter und zwei Söhnen. 2013 zog das Ehepaar nach Mazan, ein idyllisches Dorf in der Provence. Hier wollten sie gemeinsam ihren Lebensabend verbringen. Doch es kam alles anders. 

Dabei flogen die Taten ihres Ex-Mannes nur durch Zufall auf, als er dabei erwischt wurde, wie er in einem Supermarkt Frauen unter den Rock filmte. Daraufhin fand die Polizei auf seinem Computer die fast 4000 Fotos und Videos der Vergewaltigungen. 

Querschnitt der französischen Gesellschaft

Nicht nur die Schwere der Taten ist erschütternd, sondern auch die Durchschnittlichkeit von Gisèle Pelicots Vergewaltigern. Es ist ein Querschnitt der französischen Gesellschaft: Sie waren zwischen 21 und 68 Jahre alt, darunter ein Feuerwehrmann, ein Gefängniswärter, ein Journalist und ein LKW-Fahrer. Manche verheiratet, manche nicht. Erschreckend ist auch, wie scheinbar einfach es für Dominique Pelicot war, seine Mittäter zu finden: Sie alle kamen aus einem Umkreis von nur wenigen Kilometern.

«Ich bin ein Vergewaltiger wie die anderen hier im Raum», sagte Dominique Pelicot vor Gericht. Die meisten der Mitangeklagten hatten jedoch auf nicht schuldig plädiert. Viele argumentierten damit, dass der Ehemann ihnen die Erlaubnis gegeben hätte. Dass sie nicht gewusst hätten, dass sie vergewaltigen. Oder dass sie geglaubt hätten, dass Gisèle Pelicot sich schlafend stelle. 

Kein gewöhnlicher Fall

Doch die Beweislast war zu erdrückend. Auch das machte den Prozess von Avignon so aussergewöhnlich: In den meisten Vergewaltigungsfällen handelt es sich um Vier-Augen-Delikte, oft steht Aussage gegen Aussage. Nicht so im Fall Pelicot. So wurden auch die 51 Mitangeklagten vom Gericht für schuldig befunden. Das Strafmass fiel jedoch deutlich tiefer aus, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Für die Männer wurden Haftstrafen von 3 bis 15 Jahren verhängt. Die Staatsanwaltschaft hatte 10 bis 18 Jahre gefordert. «Honte à la justice» («Schande über die Justiz») riefen die Hunderten von Menschen, die sich vor dem Gericht versammelt hatten, nach der Urteilsverkündung.

Gisèle Pelicot wurde mit Beifall und Jubel begrüsst, als sie das Gerichtsgebäude verliess. «Merci Gisèle» stand auf einem Transparent, das feministische Aktivistinnen an den Stadtmauern Avignons aufgehängt hatte. Auf vielen Schildern war «La honte a changé de camp» («Die Scham hat die Seite gewechselt») zu lesen. 

Es ist eine Würdigung von Gisèle Pelicots Worten, die wie sie berühmt geworden sind: «La honte doit changer de camp.» Indem sie darauf bestand, dass der Prozess öffentlich geführt wurde, und dass die Videos, in denen sie hundertfach vergewaltigt wurde, öffentlich gezeigt wurden, setzte sie ein Zeichen: Nicht sie, das Opfer, muss sich schämen, sondern die Täter.

Gisèle Pelicot ist mittlerweile zu einer Ikone der feministischen Bewegung geworden. Ihr Fall hat weltweit eine Debatte über sexualisierte Gewalt ausgelöst, vielerorts fanden Kundgebungen statt. Die Staatssekretärin für die Gleichstellung von Mann und Frau, Salima Saa, sagte zu dem Prozess: «Es gibt ein Davor und ein Danach.» Wie das Danach genau aussehen wird, ist noch unklar. Ex-Premierminister Michel Barnier kündigte zusätzliche Massnahmen zum Schutz von Missbrauchsopfern an. In der französischen Politik wird zudem darüber diskutiert, ob die «Nur-Ja-heisst-Ja-Regel» im Gesetz verankert werden soll.

Als Gisèle Pelicot nach der Urteilsverkündung den Gerichtssaal verliess, tat sie dies hocherhobenen Hauptes. «Als ich am 2. September die Türen zu diesem Prozess öffnete, wollte ich, dass die Gesellschaft an dieser Debatte teilhaben kann», sagte sie zu den versammelten Journalisten. Es sei eine Entscheidung, die sie nie bereut habe.

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