Anwalt Markus Oertle (64) sagt, weshalb Richter bei Sexualdelikten sehr intime Fragen stellen müssen
«Es ist allen klar, dass das eine grosse Belastung für das Opfer ist»

Ein Bündner Richter (49) soll Ende 2021 eine damals 24-jährige Praktikantin in seinem Büro vergewaltigt haben. Vor Gericht wurde das mutmassliche Opfer sehr detailliert zum Erlebten befragt. Das sorgt für Diskussionen. Strafrechtsexperte Markus Oertle ordnet ein.
Publiziert: 01.11.2024 um 21:20 Uhr
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Aktualisiert: 03.11.2024 um 11:50 Uhr
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Bei einem Vier-Augen-Delikt sei es wichtig, dass Richterinnen und Richter nicht nur die Fallakten kennen, sondern die wichtigsten Aussagen selbst hören, sagt Rechtsanwalt Markus Oertle.
Foto: zVg

Auf einen Blick

  • Richter soll Praktikantin vergewaltigt haben, er spricht von Affäre
  • Prozess erhält nationale Aufmerksamkeit, Verhandlung im Grossratsgebäude in Chur
  • Opfer sollte etwa detailliert erklären, wie oft Täter in sie eindrang
  • Ein Experte sagt, warum das nötig ist
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Daniel JungRedaktor News

Es steht Aussage gegen Aussage: Am Abend des 13. Dezember 2021 soll ein Richter (heute 49) eine damalige Praktikantin (heute 27) in seinem Büro vergewaltigt und sexuell genötigt haben. Das sagt die Frau.

Der Mann erzählt eine andere Geschichte. Der ehemalige Richter – er war nach Bekanntwerden der Vorwürfe zurückgetreten – gab an, es habe sich um einen Flirt, eine Affäre gehandelt. Die Initiative sei teilweise von der jungen Frau ausgegangen. 

Seit Donnerstag wird der Fall vor dem Regionalgericht Plessur GR verhandelt. Der Prozess erhält national viel Aufmerksamkeit. Wegen des grossen Interesses findet die Verhandlung im Grossratsgebäude in Chur statt. 

«Beine zusammenpressen»

Dabei sorgt insbesondere die Befragung des Opfers durch das Richtergremium – eine Frau und zwei Männer – für Diskussionen. So musste das Opfer am Donnerstag detailliert erklären, welche sexuellen Handlungen der Beschuldigte vorgenommen habe, wo er dabei Hände, Zunge und Geschlechtsteil hatte. Die Frau sollte beziffern, wie oft der Täter in sie eingedrungen sei. Einer der Richter sagte zudem, dass die Frau nicht unkräftig gebaut sei: Wenn sie die Beine zusammenpresse, dürfte es schwierig sein, in sie einzudringen. Es sind sehr intime Fragen, die das Gericht stellt.

Eine Mehrheit der Vergewaltigungen sind Vier-Augen-Delikte. Heisst: Es gibt nur die Aussagen des Opfers und des möglichen Täters, aber keine Zeugen. So auch im Prozess von Chur. Doch warum muss das Opfer das Martyrium wegen einer so minuziösen Befragung noch mal durchleben?

Details machen Schilderungen glaubhaft

Eine detaillierte Befragung vor Gericht sei durchaus notwendig, sagt Markus Oertle (64), Rechtsanwalt bei der Kanzlei Landmann & Partner in Zürich. Bis 2022 war er Leiter der Staatsanwaltschaft für schwere Gewaltkriminalität im Kanton Zürich.

Richter müssten die Glaubhaftigkeit einer Aussage beurteilen. «Da gibt es verschiedene Realitätskennzeichen, die sich in der Lehre herausentwickelt haben», sagt Oertle. Dazu gehöre, dass eine glaubhafte Schilderung detailreich sei. Wenn ein Opfer einfach sage: «Ja, und dann kam es zu einer Vergewaltigung», sei unklar, ob ein Opfer diese tatsächlich erlebt habe. Wenn ein Opfer hingegen Details liefere – über Kleider, Schuhe und Möbel spreche –, sei dies ein Zeichen für tatsächliches Erinnern. 

Oertle betont, dass bei einem Prozess zu einem Sexualdelikt auch der Beschuldigte vor einem falschen Urteil geschützt werden müsse. Deshalb sei es richtig, dass Richterinnen und Richter nicht nur die Fallakten kennen, sondern die wichtigsten Aussagen selbst hören. Diese Haltung teile das Bundesgericht, und es sei in der Strafprozessordnung von 2011 so vorgesehen. «Das Gericht muss live, aus eigener Wahrnehmung, die wichtigsten Zeugen einvernehmen.» 

«Man kann den Kern der Sache nicht allgemein abhandeln»

Dafür brauche es detaillierte, intime Fragen. «Es ist allen klar, dass das eine grosse Belastung für das Opfer ist», sagt Oertle. Zum Schutz des Opfers würden deshalb manchmal Zuschauer von Teilen der Befragung ausgeschlossen – wie am Donnerstag in Chur. Manchmal würden Beschuldigte und Opfer auch räumlich getrennt und die Befragung mit Kameras übertragen. 

«Man versucht, das Opfer zu schützen, aber die Richterinnen und Richter müssen die Glaubhaftigkeit selbst beurteilen», sagt Oertle. Dazu gehöre es eben auch, detailliert zu konkreten sexuellen Handlungen zu fragen. «Man kann den Kern der Sache nicht einfach allgemein abhandeln», so der Jurist. 

Wie stark ein Richter ins Detail gehe, sei stets eine schwierige Abwägung. «Man muss nicht nur das Opfer schützen», betont Oertle. Auch der Beschuldigte habe Anspruch auf ein faires Verfahren. 

Neues Sexualstrafrecht hat Befragungen nicht verändert

Das neue Sexualstrafrecht mit dem Grundsatz «Nein heisst nein», das im Juli in Kraft trat, habe dabei die Art der Befragungen vor Gericht kaum verändert, sagt Oertle. «Die Frage, ob eine Aussage in einem Vier-Augen-Delikt glaubhaft ist, stellt sich nach wie vor.» 

Dass der Beschuldigte im Prozess in Chur selbst ehemaliger Richter ist, verändere die Dynamik im Gerichtssaal wohl, sagt der Experte. «Für die Richter wird es eher schwieriger, auch wegen des grossen Interesses der Medien.» Letztlich werde in so einem prominenten Fall aber besonders sorgfältig gearbeitet, ist Oertle überzeugt.

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