Militärexperte Berni über den russischen Energie-Terror
Putins Winter-Taktik wird nicht aufgehen!

Wladimir Putin verfolgt mit seiner Winter-Taktik zwei Ziele: Die Ukrainer mürbe machen und den Westen in die Knie zwingen, um weitere Waffenlieferungen zu verhindern. Aber kann er den Krieg so gewinnen?
Publiziert: 01.11.2022 um 10:42 Uhr
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Aktualisiert: 14.11.2022 um 21:19 Uhr
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Militärexperte Marcel Berni ordnet für Blick die Lage in der Ukraine ein.
Foto: Zvg
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Sven ZieglerRedaktor News

Russland hat seine Taktik geändert. Nachdem sich der Krieg im Sommer fast ausschliesslich auf den Osten konzentrierte und weite Teile der Ukraine von direkten Kampfhandlungen verschont geblieben waren, lässt Kreml-Chef Wladimir Putin (70) seit einiger Zeit erneut alle grossen Städte der Ukraine beschiessen – insbesondere das Stromnetz.

Dadurch will Putin die Ukrainer zermürben. Der Winter naht, und durch die zerstörten Energiequellen dürfte es eiskalt werden für die Bevölkerung. Genau darauf setzt der Kreml-Chef, erklärt Marcel Berni (34), Strategieexperte an der Militärakademie der ETH Zürich.

Die grosse Hoffnung in Moskau sei es, dass sich die Ukrainer schliesslich gegen ihre Führung auflehnen. Die Winter-Taktik zielt aber nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf den Westen. Putin geht davon aus, dass der Westen im Winter seine Unterstützung für die Ukraine einstellen wird, weil der Druck auf die Staaten dann grösser werden könnte. Er hofft, mit der Energiekrise den Westen in die Knie zu zwingen. Er will Angst machen. Zuerst nutzte er eine Getreideblockade als Druckmittel, dann das Gas. Sobald Europa friert, soll es das gewesen sein mit der Ukraine-Unterstützung, so die Strategie.

«Das wäre ein verheerendes Signal an die Weltpolitik»

Doch wie wahrscheinlich ist es, dass der Westen die Ukraine nicht mehr unterstützen könnte? Militärexperte Berni ist davon überzeugt: So weit wird es nicht kommen. «Ich glaube, dass Putin sich bei dieser Strategie massiv verkalkuliert. Niemand weiss, wie hart der Winter tatsächlich wird. Zudem ist die Koalition für eine Unterstützung der Ukraine sehr breit, Risse sind zumindest nach aussen nicht wahrnehmbar.» Insbesondere die USA hätten ein grosses Interesse an einem geschwächten Russland. Diese Schwächung wolle die Regierung von Joe Biden (79) nicht aufs Spiel setzen.

Ausserdem würde der Westen seine Glaubwürdigkeit als verlässlichen Partner verlieren, sollte er die Unterstützung einstellen. «Das wäre ein verheerendes Signal an die Weltpolitik, es wäre das Signal eines schwachen Westens. Aus heutiger Sicht ist es daher unwahrscheinlich, dass der Support für die Ukraine plötzlich wegbricht», so der ETH-Experte weiter.

So lange weitermachen, bis die Raketen ausgehen

Darum setzt Wladimir Putin auch weiterhin auf Raketen-Terror. Erst am Montagmorgen wurde unter anderem die Hauptstadt Kiew erneut beschossen. Überraschend sei das nicht, sagt Berni zu Blick. «Russland hat in den vergangenen Tagen immer wieder davon gesprochen, keine grossangelegten Angriffe mehr auf die Städte ausführen zu wollen. Trotzdem ist es nun wieder passiert.»

Es passe zu Russlands Strategie, nach einer Ankündigung das Gegenteil auszuführen. Auch das gehöre zum Zermürbungskrieg. «Putin spielt auf Zeit. Er ist überzeugt, dass mit zunehmender Dauer des Krieges auch die Unzufriedenheit in der ukrainischen Bevölkerung wächst.»

Putin werde daher weitermachen, glaubt Berni – und zwar «so lange, bis ihm die Raketen und Drohnen ausgehen oder die Soldaten den breiten Aufstand proben». Russische Machteliten könnten sich eine Kriegsniederlage nicht leisten, das zeige auch ein Blick in die Geschichte. In der Vergangenheit endeten Niederlagen der russischen Armee meistens mit dem Rücktritt oder der Vertreibung der obersten politischen Elite. «Das weiss auch Putin ganz genau. Deshalb wird er nicht aufgeben», sagt Berni.

Zusammenbruch innert weniger Wochen?

Bereits jetzt gibt es in Russland Gerüchte, dass der langjährige Präsident aufgrund des Ukraine-Kriegs bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten könnte. Zudem gibt es Machtkämpfe innerhalb des Kremls. Berni: «Putin weiss, dass ihm auch Ultranationalisten wie der Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow (46) oder Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin (61) gefährlich werden könnten. Diese Ultranationalisten haben derzeit einen grossen Einfluss innerhalb des Kremls – zu gross, als dass Putin sie einfach ignorieren könnte.» Deshalb versuche er auch alles, um diese Gruppe zufriedenzustellen, und für sie komme nur eine Fortsetzung des Krieges infrage.

Berni schätzt daher, dass der Krieg noch länger andauern könnte. Derzeit sei das Waffenarsenal der Russen noch nicht erschöpft, und auch ein breiter Widerstand innerhalb der Armee sei nicht auszumachen. Aber: «Ein Aufstand innerhalb der Armee kann sich sehr schnell formieren. Wann das genau passiert, weiss niemand. Aber eine herbe strategische Niederlage, beispielsweise der Verlust einer wichtigen Stadt wie Cherson, kann ungeahnte Folgen haben.»

Sollte ein Teil der russischen Front komplett zusammenbrechen, so Berni, «kann das einen Domino-Effekt auslösen – und die gesamte Armee innert weniger Wochen zum Kollaps bringen.»

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