Neues Kapitel im Krieg in der Ukraine: Die russischen Truppen haben am Montagabend mit der Grossoffensive auf den Donbass sowie Mariupol begonnen. Im Gegensatz zum bisherigen Krieg mit mehreren Angriffsfronten konzentrieren sich die Russen nun auf den Osten des Landes.
Die Hafenstadt am Schwarzen Meer gilt als «Herz des Krieges». Ist sie erobert, haben die Russen freien Landzugang zur annektierten Halbinsel Krim. Es wäre ein Teilsieg für Präsident Wladimir Putin (69).
Es ist wohl eine Frage von wenigen Tagen oder sogar Stunden, bis Mariupol ganz in russische Hände fällt. Die Stadt ist schon jetzt in weiten Teilen erobert. Von den 440'000 Einwohner sind rund 130'000 zurückgeblieben. Laut Behördenangaben sind Zehntausende getötet worden.
Rund 90 Prozent der Gebäude sind beschädigt oder zerstört, es fehlt an Strom, Wasser und Lebensmitteln. Die Evakuierung ist wegen verweigerter Fluchtkorridore schwierig und gefährlich.
Der Bürgermeister, Wadym Bojtschenko (44), teilte mit, dass etwa 40'000 Zivilisten gewaltsam nach Russland oder in von Russland kontrollierte Regionen der Ukraine gebracht worden seien.
Kämpfer verschanzen sich
Bisher haben vor allem die ukrainischen Kämpfer des Asow-Regiments die Stadt verteidigt. Wegen der Offensive der Russen haben sie sich in den Tunnels des Stahlwerk Asowstal verschanzt, jetzt geht es nur noch um den Schutz des eigenen Lebens. Laut Schätzungen befinden sich da rund 2500 Asow-Kämpfer sowie 400 Söldner.
Aber auch Zivilisten haben sich unter dem Boden in Sicherheit gebracht, man spricht von bis zu 1000 Personen – vor allem alte Menschen, aber auch Kinder. Russland wirft den Ukrainern vor, die Zivilisten als Schutzschilde zu missbrauchen.
Bunkerbrechende Bomben
Denys Prokopenko (30), Kommandant des Asow-Regiments, sagte am Montag, dass das Gelände des Stahlwerks mit bunkerbrechenden Bomben und Raketen angegriffen werde. Solche Geschosse verfügen über ein hartes Stahlgehäuse, damit sie die Zieloberfläche durchdringen können. Sie explodieren erst, wenn sie die Schutzhülle eines Bunkers durchbohrt haben.
Es wurden Bilder gezeigt – offenbar aus einem Bombenschutzkeller auf dem Werksgelände mit Frauen und Kindern neben aufgehängter Wäsche zwischen Doppelstockbetten. In dem Video sagt ein Junge: «Wenn geschossen wird, dann wackelt alles bei uns.» Eine Frau spricht in die Kamera: «Uns wurde alles genommen. Lasst uns wenigstens noch etwas am Leben.»
Es ist nicht das erste Mal, dass um Mariupol gekämpft wird. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg war die Stadt 1941 bis 1943 von der deutschen Wehrmacht besetzt und wurde schwer beschädigt. Anfang 2015 gab es schwere Kämpfe zwischen Ukrainern und prorussischen Rebellen, die mindestens 30 Tote forderten.
Putin verfolgt «Nazis» des Asowschen Regiments
Weil die ukrainischen Streitkräfte praktisch wirkungslos waren, gründete sich nach der Krim-Annexion von 2014 das Asowsche Regiment, benannt nach dem Asowschen Meer. Gründer waren Andrij Biletzki, Oleh Ljaschko und Dmytro Kortschynskyj, die als rechtsextrem und nationalistisch gelten. Das Regiment ist heute Teil der Nationalgarde, die aus Freiwilligen besteht und nicht Teil der Streitkräfte ist.
Putin wird alles dran setzen, die Mitglieder des Asowschen Regiments zu fassen. Sein Ziel, warum er die Ukraine angreift, lautet ja «Entnazifizierung». Am Dienstagnachmittag läuft ein weiteres Ultimatum ab. Ergeben sich die ukrainischen Kämpfer nicht, sollen sie «vernichtet» werden.