Vor rund sieben Wochen begann Russland den brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine – ein Ende ist nicht in Sicht. Die grosse Frage, die sich deshalb alle stellen, ist: Wie geht es jetzt weiter? Denn: Die heftigen Kämpfe im Osten der Ukraine scheinen nicht nachzulassen, erst kürzlich kündigte Russland einen Strategiewechsel an und verlagerte seine Truppen aus anderen Landesteilen dorthin.
Der australische Ex-General und Militärstratege Mick Ryan hat nun auf Twitter vier Optionen aufgestellt, welche die ukrainischen Streitkräfte jetzt noch haben, um einen Sieg der Russen zu verhindern oder gar über sie zu siegen.
Option 1: Rein defensives Vorgehen
«Die Ukraine würde so die Gebiete verteidigen, die sie in der Ostukraine bereits unter Kontrolle hat. Zudem würden sie ihren Luftraum schützen und die Rückzugsgebiete der Russen angreifen», schreibt Ryan.
Diese Option sei laut Ryan eine «einfache Verteidigungsstrategie». Jedoch habe sie sich bereits in der Vergangenheit als effektiv erwiesen. Einen Haken habe die Strategie allerdings.
Weil sie rein passiv ist, könnte Russland immer wieder zuerst oder erneut angreifen. Die Ukraine müsste also immer wieder auf die Attacken der Russen reagieren, ohne selbst solche ausführen zu können.
Weil die russische Grenze näher ist und das Land bereits Gebiete in der Ostukraine kontrolliert, hätte Russland zudem einen entscheidenden Vorteil, der die Option für die Ukraine unattraktiv macht.
Option 2: Verteidigen im Süden und zurückholen im Osten
In diesem Szenario würde die Ukraine um einiges aktiver werden. Für Ryan heisst das, dass die Soldaten im Osten und Nordosten einzelne Offensiven durchführen würde, um die von den Russen eingenommenen Gebiete zurückzuholen. Im Süden hingegen würden die Ukraine ihr Gelände lediglich verteidigen.
Option 3: Ukrainische Offensiven im Nordosten, Osten und Süden
«Eine dritte ukrainische Strategie könnte darin bestehen, gleichzeitig Offensiven im Nordosten, Osten und Süden durchzuführen, um das seit dem 24. Februar eroberte Territorium zurückzuerobern», so Ryan.
Diese Option erachtet der Ex-General aber als ziemlich komplex, da es für solche drei gleichzeitig ablaufende Operationen eine grosse Menge an Feuerunterstützung, Logistik und Luftunterstützung erfordern würde.
Wie die zweite Option ist auch das dritte Szenario ein offensives. «Offensive Operationen sind viel schwieriger zu planen, zu befehlen und aufrechtzuerhalten als defensive Operationen», weiss Ryan aus eigener Erfahrung.
Option 4: Die riskanteste und gefährlichste
Hier würde die Ukraine alles auf eine Karte setzen. Die Streitkräfte würden eine vollständige Rücknahme aller russischen Errungenschaften seit 2014 anstreben.
Dazu müssten sie aber zuerst die Russen aus dem Donbass und aus der Krim vertreiben. Ryan erachtet dieses Szenario aber als unwahrscheinlich, denn: «Dies ist eine komplexere und schwierigere Option, da sie eine sehr grosse militärische Streitmacht erfordern würde».
Zudem würde ein solches Vorgehen auch viel höhere Verluste mit sich bringen. Das wiederum würde dann die Friedensverhandlungen um einiges erschweren.
Lange Nachschublinien könnten zum Problem für die Ukraine werden
Auch wenn jedes der Szenarien seine Vor- und Nachteile hat, müssen die ukrainischen Streitkräfte einen wichtigen Faktor beachten: die enorm langen Nachschublinien.
Waffenlieferungen aus Europa etwa, die im Westen der Ukraine ankommen, müssten dann zuerst noch hunderte Kilometer durchs Land verteilt werden. Damit ginge kostbare Zeit verloren, was Russland natürlich gelegen käme.
«Wenn Russland seine Luftwaffe einsetzt, ist diese ein einladendes Ziel. Denn die Russen wissen aus Erfahrung, wie schädlich solche Angriffe auf den Nachschub für die eigenen Pläne sind», so Ryan.
Den Teufel an die Wand malen möchte er aber nicht. Denn: «Bisher haben alle strategischen Entscheidung der Ukraine sehr gut funktioniert.» Deshalb bestehe immer noch die Chance, Russland zu besiegen. (ced)