In der Nähe sind Einschläge zu hören. Bei jeder Explosion drückt Maria* ihren Sohn an sich. Trotz der Bombardierungen will sie Sewerodonezk nicht verlassen. Sie gehören zu den wenigen Zivilisten, die noch in der Geisterstadt ausharren – der am weitesten im Osten gelegenen Stadt der Ukraine, die noch unter Kontrolle Kiews ist.
Mit dem sechsjährigen Maxim sitzt Maria auf der Türschwelle eines kleinen Hauses. Etwa 20 Minuten lang hört man das Zischen der Raketen, gefolgt von Explosionen. «Es gibt keine Elektrizität mehr, kein Wasser», sagt die junge Frau, die hier mit ihrem Ehemann und ihrer Schwiegermutter wohnt. Dennoch ziehe sie es vor, zu Hause zu bleiben.
«Wenn wir gehen, wohin gehen wir? Die, die weggehen, um die kümmert man sich danach nicht mehr», sagt Maria. Die Leute müssten womöglich mit vielen anderen in einer Wohnung leben. Wieder eine Explosion. «Die Bomben? Das ist die ganze Zeit so», bemerkt sie wie nebenbei.
«Voll mit Leichen von Zivilisten»
Die Grenze zu den pro-russischen Separatistengebieten ist ganz nah. Sewerodonezk, vor dem Krieg eine Stadt von mehr als 100'000 Einwohnern, ist nahezu menschenleer. Seit Kriegsbeginn habe es rund 400 Begräbnisse in der Stadt gegeben, erklärte der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gajdaj (46), Anfang der Woche. Die Leichenhallen in den Städten der Region seien «voll mit Leichen von Zivilisten».
An diesem Mittwoch regnet es. Es ist kalt und windig, der Himmel grau, voll tief hängender, dunkler Wolken. Der Regen füllt die Schlaglöcher in den Strassen. Nicht die besten Voraussetzungen für eine russische Grossoffensive in der Donbass-Region, die nach ukrainischen Angaben unmittelbar bevorsteht. Die Stellungen an der Front haben sich seit Tagen nicht bewegt, nur die Artillerie beider Seiten scheinen aktiv.
«Ich habe Angst, viel Angst»
Auf einer grossen Strasse im Stadtzentrum sind einige wenige Menschen unterwegs, um Besorgungen zu machen. Als Einschläge zu hören sind, beeilen sie sich, gehen gebückt dicht an den Mauern entlang.
Ein alter Mann und eine Frau gehen auf der Strasse. «Ich suche etwas zu trinken. Diese Frau will Brot. Aber sie verkaufen keins», schimpft der 70-jährige Juri. Ob er keine Angst vor den Bomben habe, fragt ein AFP-Reporter. «Ich habe Angst, viel Angst, aber ich bin 70 Jahre alt, also zeige ich es nicht», antwortet er und lächelt. Wegen seiner schmerzenden Gelenke bräuchte Juri eigentlich Medikamente, «aber es gibt keine Ärzte, keine Krankenschwestern, und alle Apotheken sind geschlossen».
Wer will, kann die Stadt noch verlassen. Die 61-jährige Tamara J.** ist mit ihrer 83-jährigen Mutter zum Sammelpunkt vor dem Kulturzentrum gekommen. «Wir werden gehen», sagt sie. «Hier müssen wir im Keller bleiben. Es ist fürchterlich. Alle zehn bis 15 Minuten gibt es Bombardierungen.»
«Alle müssen zurück in den Keller»
Am Anfang habe es noch Hilfslieferungen gegeben, «aber nun erinnert sich niemand mehr an uns», sagt die 61-Jährige. Es sei nicht einmal möglich, sich draussen über einem Feuer etwas zu essen zu machen. «Bumm, bumm ... alle müssen zurück in den Keller. Die ganze Nacht, bis zum Morgen, es gibt keine Pause.»
An einem Checkpoint am Stadteingang stehen ukrainische Soldaten mit Regenumhängen, an einer Hausecke ein gepanzertes Fahrzeug mit Tarnnetz. Einige leere Transportfahrzeuge sind zu sehen, Tanklaster fahren Richtung Front.
Dem Gouverneur zufolge konzentrieren die Russen ihre Truppen nahe Rubischne, weniger als zehn Kilometer nördlich von Sewerodonezk. Ein Anwohner, dessen Haus beide Städte überblickt, erzählt, Rubischne sei bombardiert worden – die gesamte letzte Nacht. (AFP/jmh)
* Nur Vornamen bekannt
** Namen bekannt