Der Ukraine-Krieg entwickelt sich für Russland immer mehr zum Desaster. Je länger der Krieg andauert, desto mehr gerät Präsident Wladimir Putin (69) unter Druck – das Volk will nun wissen, warum russische Soldaten schon seit zwei Monaten ihr Leben in der Ukraine riskieren.
Deshalb kursieren nun unzählige Geschichten, die «die Mission» rechtfertigen sollen. Das wichtigste Argument ist nach wie vor: Die Ukraine müsse von Nazis befreit werden.
Russen sollen angestachelt werden
Ein Militäranalyst betonte im staatlichen Fernsehen darum auch, dass Russland unbedingt gewinnen müsse. Er rief sogar zu Konzentrationslagern für Ukrainer auf, die sich der Invasion widersetzen würden, wie die «Washington Post» berichtet.
Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im russischen Unterhaus sprach zudem von einer nötigen Umerziehung des ukrainischen Volkes. Zwischen 30 und 40 Jahre könne es dauern, bis diese erreicht sei.
Nebst solch erschreckenden Aussagen finden sich auch einige, die versuchen, den Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer ins Lächerliche zu ziehen. Als «kollektiven Irrsinn» bezeichnete der Chefredakteur von RT diesen etwa in einer Talkshow.
Die Devise ist klar: Russinnen und Russen sollen gegen das «Brudervolk» angestachelt werden. «Es ist kein Zufall, dass wir sie Nazis nennen», sagt Margarita Simonyan, Chefredaktorin vom russischen Medienunternehmen Rossija Sewodnja. «Was sie zu Nazis macht, ist ihre bestialische Bereitschaft, Kindern wegen ihrer Nationalität die Augen herauszureissen», fuhr sie in ihrer Wutrede fort.
Mit solch abstrusen Aussagen ist Simonyan nicht alleine. Laut Eugene Finkel, Experte für Völkerrecht an der John Hopkins Universität in Bologna (I), seien es nicht nur ein paar verrückte Hardliner, die sich solcher Rhetorik bedienen. Inzwischen würden auch prominente Regierungsvertreter, die Presse und das staatliche Fernsehen diese Aussagen teilen.
Machtelite denkt an Zeit nach dem Krieg
«Sie reden davon, die Ukrainer als Gruppe, die Ukraine als Staat und als Identitätsgemeinschaft zu zerstören. Das Argument dafür ist, dass diese nationale Gemeinschaft zerstört werden soll, damit etwas Neues geschaffen werden kann, koste es, was es wolle», sagt Finkel zur «Washington Post».
In Russlands Machtelite wird trotz trüber Aussichten bereits an die Zeit nach dem Krieg gedacht. Eine mögliche Teilung der Ukraine, die Zerschlagung des Militärs und der Zivilgesellschaft und die jahrelange Besetzung des Landes, all das steht im Kreml wohl zur Diskussion.
Der ehemalige Kreml-Berater Sergej Karaganow (69) sagte kürzlich in einem Interview mit «New Statesman», dass die Ukraine nur noch als Rumpfstaat übrig bleiben würde, wenn die russische Armee ihre Arbeit erledigt hätte. Gleichzeitig stellt er aber auch klar: «Russland kann es sich nicht leisten, zu verlieren».
Deshalb setzt man jetzt alles auf eine Karte. In einem in der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti kürzlich erschienenen Meinungsartikel mit dem Titel «Was mit der Ukraine passieren muss», schrieb der Politikberater und Putin-Anhänger Timofei Sergeitsev, was den Ukrainerinnen und Ukrainern bei einer Niederlage bevorstehen könnte.
Manche Russen haben Angst vor Kriegs-Rhetorik
«Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich die Mehrheit – von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde», so Sergeitsev.
Für ihn gibt es nur eine Lösung. «Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repression der nationalsozialistischen Gesinnung und strenge Zensur erreicht wird». Diese könnte sich bei Bedarf auch auf die Bereiche der Kultur und der Erziehung ausweiten, so Sergeitsev.
Natürlich stehen nicht alle Russinnen und Russen hinter diesen Aussagen – vielen macht die Kriegs-Rhetorik grosse Angst. Eine von ihnen ist Valeriya. Aus Sicherheitsgründen will sie ihren Namen nicht in der Presse lesen. Sie lebt in einer Provinzstadt und hat dort bereits beobachtet, wie der Hass gegenüber der Ukraine zunimmt, berichtet die «Washington Post».
So werde Valeryia von ihren Freunden zunehmend kritisch beäugt, weil sie mit einem Ukrainer zusammen sei. Sie verlangten gar von ihr, zu sagen, auf wessen Seite sie stehe. Auch in den sozialen Medien kursieren laut Valeryia immer mehr Beiträge, die einen Völkermord an Ukrainerinnen und Ukrainern unterstützen.
Für sie sei das aber erst der Anfang. Ihre grosse Sorge: «Wenn das Staatsfernsehen weiterhin dazu aufruft, den Krieg fortzusetzen und den letzten Ukrainer zu töten, dann werden die einfachen Leute vielleicht anfangen, das zu glauben. Und viele, viele Leute werden denken, dass wir das auch tun sollten». (ced)