«Die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Kriminellen hat sich auf die Seite der Ukraine gestellt», sagt Kirim (59). Er, der in Wirklichkeit anders heisst, sitzt in einem Café in der ukrainischen Hafenstadt Odessa und raucht, während er von den Auswirkungen des Krieges auf die russisch-ukrainische Mafia erzählt. Kirim kennt sich im kriminellen Milieu aus, er ist selbst Schmuggler.
«Aber es gibt auch diejenigen, die weiterhin mit Russland zusammenarbeiten», sagt er – aber erst, als der Kellner ausser Hörweite ist. Das grenzüberschreitende Netzwerk für Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, das sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelt hatte, galt als eines der stärksten der Welt. Zerschlagen ist es auch nach 15 Monaten des Krieges noch nicht.
Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, wurde auch die hunderte Kilometer lange Schmugglerroute von der russischen Grenze nach Europa unterbrochen. Nicht nur Kämpfe und Kontrollpunkte stoppten den illegalen Handel, sondern auch die Empörung über den brutalen Angriff. «Das Gefühl ‹Wir gegen sie› war in der Ukraine so stark, dass sogar Kriminelle zu Patrioten wurden», sagt Tuesday Reitano von der Nichtregierungsorganisation Global Initiative Against Transnational Organized Crime.
Mächtige kriminelle Gruppe «neutralisiert»
Auch Kirim bezeichnet sich als Patriot und behauptet, keine Geschäfte mehr mit Russen zu machen. Andere im Milieu hätten Geld für den Krieg oder wohltätige Zwecke gespendet. Berichten zufolge wurden einige Kriminelle zu Soldaten. Verbrecher könnten den Krieg aber auch nutzen, sich neu aufzustellen oder für ihre Unterstützung von den Behörden mit Milde belohnt werden.
Aleksandr (40), ist in der Unterwelt von Odessa als Schuldeneintreiber unterwegs. Auch er will nichts mehr mit Russen zu tun haben – aber genauso wenig mit dem Staat, den er für korrupt hält. «Ich will nicht für die Armee kämpfen, aber ich werde für meine Stadt kämpfen», sagt er, während er das zweite Bier des Vormittags trinkt.
Zu Beginn des Krieges habe der ukrainische Geheimdienst Kriminelle aufgefordert, ihre Geschäfte einzustellen und um Informationen gebeten, berichten sowohl Kirim als auch Aleksandr. Offenbar folgten nicht alle dieser Aufforderung. Im Frühjahr 2022 sei eine mächtige kriminelle Gruppe in Odessa «neutralisiert» worden, die mit dem Feind zusammengearbeitet und «die Einheimischen terrorisiert und eingeschüchtert» habe, sagt ein Geheimdienstvertreter.
«Sie schauen auf die Gewinne, selbst im Krieg»
Mit der Invasion verliessen wichtige Köpfe der internationalen organisierten Kriminalität Russland und die Ukraine und gingen nach Zentralasien, in die Golfstaaten und andere Länder. «Wir wissen, dass die russische und die ukrainische Unterwelt ausserhalb der Ukraine noch immer eng zusammenarbeiten», sagt Reitano. Auch die europäische Polizeiorganisation Europol hält es für sehr wahrscheinlich, dass Gangster aus beiden Ländern weiterhin gemeinsame Sache machen.
Es gebe nie nur eine Route für den Schmuggel. «Wir sehen im Moment keine Spaltung zwischen der russischen und der ukrainischen Mafia», sagt Europol-Chefin Catherine De Bolle (53). «Sie schauen auf die Gewinne, selbst im Krieg.»
Ob mit oder ohne Russen, die Unterwelt Odessas ist immer noch aktiv. «Es geht alles weiter, Odessa ist eben Odessa», sagt Kirim, der Schmuggler, und zuckt mit den Schultern. (AFP)