Auf einen Blick
- Die Kämpfe in Kursk intensivieren sich; gleichzeitig wird die weltpolitische Lage unsicherer
- Die Ukraine will eroberte Gebiete als Verhandlungsmasse nutzen
- Soldaten berichten: Die Brutalität auf dem Schlachtfeld sei unvorstellbar
Die Intensität der Kämpfe in der russischen Grenzregion Kursk hat wieder zugenommen. Sie finden vor einem äusserst unsicheren politischen Hintergrund statt: Am 20. Januar wird der designierte US-Präsident Donald Trump (78) seine zweite Amtszeit antreten und ins Weisse Haus einziehen. Während seines Wahlkampfs stellte er die amerikanische Militärhilfe für die Ukraine immer wieder infrage, betonte jedoch auch, den Krieg schnell beenden zu wollen. Die Erklärung, wie er das erreichen will, bleibt er bis zum heutigen Tag schuldig.
So haben die Kämpfe auf dem von der Ukraine seit August 2024 besetzten russischen Territorium eine neue Bedeutung erlangt. In Verhandlungen um einen Waffenstillstand könnten die Gebiete eine Rolle spielen. Die Ukraine hofft, eroberte Gebiete als Verhandlungsmasse zu ihren Gunsten einsetzen zu können. Dieses Druckmittel will der Kreml natürlich so schnell wie möglich, noch vor der Amtseinführung eines unberechenbaren Präsidenten, beseitigen.
Lage hat sich signifikant verschlechtert
«Die Russen müssen dieses Gebiet hier um jeden Preis zurückerobern und setzen alles daran, dies zu erreichen», sagt Sergeant Oleksander (46), der Anführer eines ukrainischen Infanteriezugs, im Gespräch mit der «New York Times». «Währenddessen geben wir alles, um es zu halten.» Die Situation habe sich allerdings seit dem Eingreifen nordkoreanischer Truppen, die von Kim Jong Un (41) zur Unterstützung von Wladimir Putin (72) nach Russland entsandt wurden, signifikant verschlechtert. «Sie setzen unsere Fronten massiv unter Druck und finden immer wieder Schwachstellen, wo sie durchbrechen können», erklärt Oleksii (30), der Führer eines Trupps. Man geht von rund 12’000 Nordkoreanern aus, mit deren Hilfe Russland etwa die Hälfte des seit letztem Sommer besetzten Gebiets bislang zurückerobern konnte.
Die Brutalität der Kämpfe erinnere an die grausamen Belagerungen von ostukrainischen Städten in den letzten drei Jahren und die damit verbundenen Massengemetzel, die sich auf beiden Seiten in die Gedächtnisse eingebrannt hätten. Oleksandr, der sich zurzeit von einer Verletzung erholt, sagt, er habe seit seinem Eintritt in die Armee 2014 noch nie so etwas Schreckliches gesehen wie das Gemetzel in Kursk, und vergleicht die Situation mit Bachmut. Dort hätten die Schützen an den Maschinengewehren regelmässig ausgewechselt werden müssen, weil sie mit dem Tempo des Tötens nicht zurechtkamen. «Nach zwei Stunden hielten sie es nicht mehr aus.» Hier sei es nicht anders. Er zeigt ein Handyvideo, zu sehen sind die Folgen eines Angriffs. Leichen übersäen ein Feld, es sei kaum möglich, all die Toten zu zählen.
«Wenn dich jemand schlägt, schlägst du zurück»
Auch die ukrainischen Streitkräfte sind in den vergangenen Tagen zum Angriff übergegangen und versuchen, ein Gebiet westlich der Kleinstadt Sudscha zu sichern, die zum Dreh- und Angelpunkt für die Soldaten geworden ist und knapp zehn Kilometer von der Grenze entfernt liegt. «Wenn sie Druck auf uns ausüben und wir nicht zurückschlagen, fühlt sich der Feind überlegen», sagt Andrii (40), ein Offizier des militärischen Geheimdienstes, zur «New York Times». Und er ergänzt: «Wenn dich jemand schlägt und du nicht zurückschlägst, ist der Feind psychologisch im Vorteil und fühlt sich sicher.»
Neben der Hoffnung, im Tauziehen um einen Waffenstillstand eine aussichtsreiche Position beziehen zu können, verfolgt die Ukraine mit den eroberten Gebieten noch weitere Ziele. So sollen durch eine Pufferzone Hunderttausende Zivilisten und Zivilistinnen in der ostukrainischen Stadt Sumy geschützt werden. Diese liegt gut 32 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ausserdem hofft man, den Druck an der Ostfront verringern zu können. Dieser Plan ging bislang nicht wie gewünscht auf. Auch wenn die Russen dort starke Verluste zu verzeichnen haben, machen sie dennoch stetig Fortschritte.
Starkes Zeichen an die Welt
Die erste Bodeninvasion in Russland seit dem Zweiten Weltkrieg nannte Präsident Wolodimir Selenski (46) bei einem Treffen in Deutschland einen «unserer grössten Siege, nicht nur im letzten Jahr, sondern während des gesamten Krieges». Aus seiner Sicht hat diese Offensive ein starkes Zeichen der Ukraine in die Welt hinausgesandt. Und das, obwohl einige Militäranalysten die Kursk-Kampagne durchaus kritisch sehen. Ihre Warnung: Die ukrainischen Streitkräfte könnten in der Donbass-Region zunehmend überfordert sein.
Für Hauptmann Shyrshyn (30) ist jedoch klar, dass der Einsatz in Kursk wichtig ist, auch wenn er zugibt, dass die ukrainische Moral in den fast drei Jahren des Kriegs abgenommen hat. Doch die Soldaten verstünden, warum sie kämpfen müssten. «Wenn wir aufhören, bedeutet das unseren Tod.»