Auf einen Blick
- Ukraine startet überraschende Offensive im russischen Gebiet Kursk
- Experten vermuten Demonstration der Unterstützungswürdigkeit vor möglichem US-Machtwechsel
- Bis zu drei Brigaden beteiligt, Ziel könnte Gewinnung von Verhandlungsmasse sein
Erst hagelte es Artilleriebeschuss, dann folgten elektronische Störmassnahmen im grossen Stil und schliesslich ratterten Panzerfahrzeuge Richtung Norden: Der ukrainische Vorstoss im russischen Gebiet Kursk sorgte am Sonntag für Überraschung. Eine offizielle Stellungnahme der Ukraine steht aus. Wie schon beim ersten Vorstoss Anfang August 2024 hüllt sich Kiew in Schweigen.
Das russische Verteidigungsministerium behauptete, einen ukrainischen Vorstoss etwa 80 Kilometer südwestlich von Kursk abgewehrt zu haben. Vier Panzer, zwei Schützenpanzer, 16 gepanzerte Kampffahrzeuge und ein Minenräumfahrzeug seien zerstört worden. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Gemäss einer Lagebeurteilung des Institute for the Study of War (ISW) konnte die Ukraine am Sonntag und Montag taktische Fortschritte erzielen. So sollen sie im südlichen Berdin, im Zentrum von Russkoje Poretschnoje und im Zentrum von Nowostznizki, die sich nordöstlich von Sudscha befinden, vorgerückt sein.
Militärhistoriker: Ukraine will Unterstützungswürdigkeit demonstrieren
Am Dreikönigstag versuchten russische Streitkräfte, ukrainische Angriffe nordöstlich von Sudscha zu nutzen, um anderswo im ukrainischen Frontvorsprung in der Oblast Kursk anzugreifen. So sollen sie westlich von Malaia Loknia, das nordwestlich von Sudscha liegt, vorrücken.
Experten sehen verschiedene mögliche Gründe für den ukrainischen Vorstoss. Der österreichische Militärhistoriker Oberst Markus Reisner vermutet gegenüber der «Deutschen Welle», die Ukraine wolle «unmittelbar vor der Übernahme der US-Präsidentschaft durch Donald Trump» ihre Unterstützungswürdigkeit demonstrieren. Trump hatte mehrfach angekündigt, den Krieg schnell beenden und die Hilfe für die Ukraine infrage stellen zu wollen. Auch der britische Russlandkenner und Sicherheitsexperte Mark Galeotti bestätigt diese Vermutung gegenüber dem «Spiegel»: «Beide Seiten wollen mehr Spielraum gewinnen, falls Trump wirklich Verhandlungen erzwingt.»
«Verzweifelte» Massnahme ist notwendig
Militärhistoriker Reisner hält es für verfrüht, von einer «tatsächlichen Offensive» zu sprechen. Er sieht eher einen «vorgetragenen Gegenangriff» mit Beteiligung von bis zu drei Brigaden. Mögliche Ziele könnten sein, aus der bedrängten Lage im Gebiet Kursk auszubrechen, oder russische Truppen in die Defensive zu zwingen. Der britische Militärexperte Shashank Joshi nennt als weitere Option, zusätzliches Land als Verhandlungsmasse vor möglichen Gesprächen nach Trumps Amtsantritt zu gewinnen. Es könnte sich auch um eine Täuschung handeln, um anderswo zuzuschlagen.
Der riskante Vorstoss wird von Experten als kalkuliertes Risiko gesehen. Für die Ukraine sei es laut Reisner wichtig, «nicht aus den Schlagzeilen zu kommen», besonders vor Trumps Machtübernahme. Die westliche Unterstützung sei entscheidend, daher sei diese «verzweifelte» Massnahme notwendig.