Die Verzweiflung in den Führungsriegen der russischen Armee scheint immer grösser zu werden. Nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin (70) eine Teilmobilmachung ankündigte, wurden überall im Land Menschen gegen ihren Willen in den Ukraine-Krieg geschickt. Auch Alleinerziehende, Krebskranke und halb Erblindete wurden eingezogen – Hauptsache, die zu erfüllenden Quoten wurden erreicht.
Unter den Einberufenen fanden sich auch Männer wie Igor Z.* (33). Der Ingenieur aus Moskau erhielt einen Marschbefehl, wurde daraufhin im Büro des Rekruten-Chefs Wiktor K.* vorstellig. «Er erzählte ihm persönlich, dass er eine Frau mit einer Behinderung hat, dass er selbst an einem angeborenen Herzfehler leidet und dass seine militärische Spezialisierung Matrose-Kabelmann sei», so die Ehefrau des 33-Jährigen gegenüber der «Novaya Gazeta».
Doch dann der grosse Schock: «K. antwortete auf die Ausführungen meines Mannes, dass es ihm egal sei. Er habe eine Quote zu erfüllen und würde dafür auch verkrümmte, schielende und behinderte Menschen einberufen.» Eine medizinische Untersuchung habe nicht stattgefunden. «Jeder wird sofort für militärtauglich erklärt.»
«Keiner wird wieder zurückfahren»
Auch Sergei C.* (31) musste das erfahren. «Wir wurden gefragt, ob wir medizinische Einschränkungen hätten. Wer mit Ja antwortete, musste zum Medizintest.» Eine wirkliche Untersuchung fand dabei aber nicht statt. «Die Ärzte haben uns angeschaut und uns mit einem Nicken für tauglich erklärt.»
C. selbst ist extrem kurzsichtig, hat gemäss eigenen Angaben -8 Dioptrien. Ein Militärdienst in Friedenszeiten? Unvorstellbar. Doch auch dieser Extremfall interessierte Rekruten-Chef K. nicht. «Er meinte nur, wir würden uns im Krieg befinden und nicht im Frieden. Damit sei ich fit für den Dienst», so der 31-Jährige.
Doch damit nicht genug: Einen Tag nach der Rekrutierung werden die beiden Männer gemeinsam mit weiteren einberufenen Soldaten erneut einbestellt. In einem Bus werden sie auf ein militärisches Trainingszentrum gefahren, wo die Kommandanten auf sie warten. «Uns wurde gesagt, dass nur Scharfschützen benötigt werden. Der Rest werde im Moment nicht gebraucht. K. sagte daraufhin zu den Kommandanten, dass er keinen der neuen Soldaten wieder zurückfahren werde.»
Mit dem Bus direkt zum Militärgericht
Nach stundenlangem Warten greift K. dann zum Äussersten. Kurzerhand ändert er die militärischen Spezialisierungen der Einberufenen und setzte alle Männer auf die Liste der spezialisierten Scharfschützen. So seien Männer zu Scharfschützen geworden, die noch nie zuvor eine Waffe in der Hand gehalten hätten, berichtet die «Gazeta».
«K. meinte, wer damit nicht einverstanden sei, könne wieder in den Bus einsteigen. Er persönlich würde dann den Bus zum Militärgericht fahren», erzählt der frisch Einberufene. Dort würden sie dann wie Deserteure behandelt und müssten mit Gefängnis rechnen, drohte der Rekruten-Chef.
Erst nach langem Hin und Her seien die Männer entlassen worden – zumindest vorübergehend. Nun soll ein Militärgericht entscheiden, ob C., Z. und andere untaugliche Männer in den Krieg ziehen müssen – und zwar als Scharfschützen, die sie eigentlich gar nicht sind. (zis)
*Name bekannt