Auf einen Blick
Die Türkei zieht Truppen an der Grenze zu kurdischen Gebieten in Syrien zusammen. Das berichtet das «Wall Street Journal» aus US-Behördenkreisen. Konzentriert seien die Kräfte in der Nähe von Kobanê an der syrisch-türkischen Grenze. Der dortige Konflikt könnte das neue Syrien «in eine erste grosse Krise führen», warnt Nahost-Experte Reinhard Schulze (71).
Die Amerikaner befürchten, dass ein gross angelegter Einmarsch in die von Kurden gehaltenen Gebiete im Nordosten Syriens unmittelbar bevorsteht. Brisant dabei: Im kurdischen Gebiet befinden sich auch rund 900 US-Soldaten.
Die Kurden sind seit dem Sturz von Ex-Machthaber Bashar al-Assad (59) unter Druck geraten. Die von der Türkei unterstützte Miliz «Syrische Nationalarmee» war in kurdisches Gebiet vorgerückt und übernahm nach schweren Gefechten die Kontrolle über die strategisch wichtige Stadt Manbidsch.
«Alarmsignal» in Kobanê
In der Grenzstadt Kobanê fanden zuletzt von den USA vermittelte Gespräche über einen Waffenstillstand zwischen den Kurden und den von der Türkei unterstützten Rebellen statt. Diese sind am Montag gescheitert. Die Kurden machten Ankara dafür verantwortlich.
«Das Scheitern der Gespräche in Kobanê ist ein Alarmsignal», sagt Reinhard Schulze. Die Türkei habe die Gespräche mit einem massiven Truppenaufmarsch in der Region begleitet. «Die Drohkulisse bleibt nach dem Scheitern der Gespräche bestehen», betont Schulze.
«Für die USA heikel»
Während die kurdischen Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) für die USA ein Partner im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) sind, sieht die Türkei die Miliz als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK – und damit als Terrororganisation. Die türkische Regierung will die Bildung eines kurdischen Staates im Nordosten Syriens unbedingt verhindern. Gemäss Schulze spielen syrische PKK-Loyalisten in der Nordostprovinz mit rund 4,5 Millionen Einwohnern eine führende Rolle.
«Offenbar glaubt Erdogan, den Umbruch in Syrien als günstige Gelegenheit für eine Militäroffensive im östlichen Euphrattal nutzen zu können», sagt der Islamwissenschaftler. «Für die USA ist die Situation heikel, weil sie die SDF ausgerüstet haben und nun dafür sorgen müssen, dass der Nato-Partner Türkei militärisch nicht auf Abwege gerät.»
Trump spricht von «feindlicher Übernahme»
Donald Trump (78) deutete am Montag an, dass die Türkei die Übernahme Syriens durch die islamistische Rebellenallianz orchestriert habe. In Florida sagte er gegenüber Reportern, dass «die Türkei eine feindliche Übernahme vollzogen hat, ohne viele Menschenleben zu verlieren». Ankara habe das «schlau» angestellt.
Auf die Frage, ob er die 900 derzeit in Syrien stationierten US-Soldaten abziehen wolle, reagierte Trump ausweichend: «Ich will nicht, dass unsere Soldaten getötet werden.»
Ankara: USA soll Position überdenken
Die türkische Regierung erklärte am Wochenende, das Land sei bereit, die neue Führung in Damaskus zu unterstützen, etwa mit militärischem Training.
Die oberste Priorität der Türkei in Syrien sei es jedoch, das Land von terroristischen kurdischen Kämpfern zu befreien, betonte Verteidigungsminister Yasar Güler (70): «Wir haben dies unseren amerikanischen Freunden gegenüber zum Ausdruck gebracht», sagte er. «Wir erwarten von ihnen, dass sie ihre Position überdenken.»
Wichtige wirtschaftliche Interessen
Kommt es zu einem offenen Krieg, so würde die Türkei diesen aufgrund ihrer militärischen Stärke wohl gewinnen, erklärt Reinhard Schulze. «Ein Sieg wäre aber wahrscheinlich mit hohen Kosten verbunden.» Eine vollständige Besetzung der Nordostprovinz komme angesichts der militärischen Präsenz der USA nicht infrage. Die Türkei würde deshalb einen permanenten Kriegszustand riskieren.
«Da Erdogan vor allem die heimische nationalistische Klientel bedienen will, dürfte es den USA schwerfallen, mässigend auf ihn einzuwirken», warnt Schulze.
Entscheidend werde zudem sein, wie sich die neue Regierung in Damaskus zum Konflikt verhalte. Werde sie in den Konflikt involviert, so könnte sich dies schnell zum Grosskonflikt ausweiten. Denn es stehen gemäss Schulze auch handfeste Interessen auf dem Spiel: die Kontrolle über die Region Deir ez-Zor mit Gas- und Ölfeldern sowie die Wasserrechte am wichtigen Fluss Euphrat.