Kaum haben sich die Amerikaner und ihre Verbündeten zurückgezogen, überrennen die Taliban Afghanistan. Am Montag haben die Islamisten mit Aibak in der Provinz Samangan im Norden die sechste Provinzhauptstadt erobert. Die offiziellen Sicherheitskräfte haben die 120'000 Einwohner zählende Stadt einfach verlassen und kampflos übergeben.
Am Sonntag hatten die Islamisten die wichtige, 370'000 Einwohner grosse Stadt Kundus, die in den vergangenen 20 Jahren von deutschen Truppen gesichert worden war, überfallen. Diese Eroberung könnte den Taliban den Weg in die rund 250 Kilometer entfernt liegende Hauptstadt Kabul öffnen.
In nur vier Tagen haben die Taliban sechs von 34 Provinzhauptstädten eingenommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere überfallen werden.
Mit der Eroberung von Städten und Stützpunkten fallen den Terroristen Fahrzeuge und Kriegsmaterial in die Hände. Bereits haben sie amerikanische Humvees für kriegerische Einsätze verwendet.
Vor 30 Jahren entstanden
Die Taliban-Bewegung entstand Anfang der 1990er-Jahre in den Flüchtlingslagern von Pakistan, wo vor allem junge Afghanen einer Islamisten-Gehirnwäsche unterzogen wurden. Taliban bedeutet «Schüler, Suchender». Mit Unterstützung Pakistans wurden die Taliban immer stärker und grausamer.
Die Taliban hatten 1996 nach langem Beschuss und Massakern die Hauptstadt Kabul eingenommen und das Islamische Emirat Afghanistan errichtet. Als die Amerikaner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan eindrangen und die Taliban-Verbündeten von Al Kaida jagten, zogen sich die Taliban nach Pakistan zurück.
Frauen nur mit Burka
Nun kehrt mit den Islamisten in Afghanistan der Horror in die Städte und ins ganze Land zurück. Sie zwingen Frauen dazu, Burka zu tragen und sich der Vormundschaft von Männern zu unterstellen. Schulen sind für Mädchen nicht zugänglich. Wer in der Ehe fremdgeht, wird erschossen, Homosexuelle werden durch Steinigung hingerichtet. Auch für Diebstahl gibt es unmenschliche Strafen wie Auspeitschungen oder Amputationen von Gliedmassen.
Die Taliban finanzieren sich durch Überfälle, Opium-Handel und Spenden vor allem aus der Golfregion.
Trumps Deal mit den Taliban
Im Februar 2020 hatten der damalige US-Präsident Donald Trump (75) und die Taliban ein Abkommen geschlossen, in dem die Amerikaner einen Truppenabzug bis Mitte 2021 in Aussicht stellten, wenn im Gegenzug die Taliban mit der afghanischen Regierung Friedensgespräche aufnehmen und Sicherheitsgarantien geben. Während die Amerikaner Wort halten, scheinen sich die Taliban nicht um die Abmachungen zu kümmern.
In der «Bild»-Zeitung zieht der ehemalige Nato-General Hans-Lothar Domröse (68) traurige Bilanz. «Ich fürchte, dass unser geliebtes Afghanistan Bürgerkrieg, Tod und Trauer erleidet. 20 Jahre Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Gleichberechtigung werden mit Füssen getreten.» Die internationale Gemeinschaft habe «sehenden Auges das Land verlassen – ohne den Ausgang der Friedensverhandlungen abzuwarten».