Lyudmila Denisova (61) kümmert sich als Kommissarin für Menschenrechte um jene, die in der Ukraine am meisten unter dem Krieg leiden. Ende der vergangenen Woche informierte sie über ihre Erfahrungen im Europaparlament in Strassburg (F), wo sie auch Blick empfing.
Im Interview erzählt sie, wie brutal die Russen mit zivilen Opfern umgehen, was mit den deportieren Ukrainern in Russland passiert und warum sie mit der Arbeit von IKRK-Chef Peter Maurer (65) nicht zufrieden ist.
Frau Denisova, was ist das Schlimmste, das Sie im Krieg erlebt haben?
Lyudmila Denisova: Der ganze Krieg ist grausam. Das Leid ist enorm, es gibt Vergewaltigungen und Folterungen. Es ist alles noch viel schrecklicher, wenn man es mit eigenen Augen ansehen muss.
Was ist der Grund, dass die Russen systematisch Frauen vergewaltigen?
Der Hintergrund ist, dass sie es Frauen verunmöglichen wollen, dass sie je wieder Kinder haben können oder wollen. Das ist klarer Völkermord. Die Soldaten stützen sich auf Putins Anweisung, das ganze Land zu zerstören.
Haben Sie Kontakt zu Vergewaltigungsopfern?
Ja. Da ist zum Beispiel eine 17-jährige Frau, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrer 15-jährigen Schwester drei Tage lang vergewaltigt wurde. Als die Mutter und die Schwester starben, musste sie weitere vier Tage neben den Leichen ausharren, bis sie von ukrainischen Truppen gerettet werden konnte. Eine andere, 25-jährige Frau, die ihre 19-jährige Schwester schützen wollte, wurde festgehalten und musste mitansehen, wie die Soldaten ihre Schwester vergewaltigten.
Lyudmila Denisova (61) ist Kommissarin für Menschenrechte in der Ukraine. Die studierte Lehrerin und Juristin arbeitete zuvor als Wirtschafts- und Finanzministerin in der autonomen Republik Krim. Darauf amtete sie zuerst unter Premierministerin Julia Timoschenko (61) und dann in der Regierung von Arsenij Jazenjuk (47) als ukrainische Ministerin für Arbeit und Sozialpolitik. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.
Lyudmila Denisova (61) ist Kommissarin für Menschenrechte in der Ukraine. Die studierte Lehrerin und Juristin arbeitete zuvor als Wirtschafts- und Finanzministerin in der autonomen Republik Krim. Darauf amtete sie zuerst unter Premierministerin Julia Timoschenko (61) und dann in der Regierung von Arsenij Jazenjuk (47) als ukrainische Ministerin für Arbeit und Sozialpolitik. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.
Was machen die Russen mit männlichen Zivilisten?
Auch Männer und Kinder werden vergewaltigt. Eine Mutter musste, an einen Stuhl gefesselt, mitansehen, wie ihr elfjähriger Bub zehn Stunden lang missbraucht wurde. Ein 45-jähriger Mann überlebte nur knapp, als er sein Versteck verliess, um Wasser zu holen. Sie folterten und vergewaltigten ihn.
In der Ukraine sind nebst Russen auch Tschetschenen, Mitglieder der Wagner-Privatarmee und andere Söldner im Einsatz. Gibt es Unterschiede in der Brutalität?
Die Aussagen der Opfer decken sich meistens. Sie sagen, dass die Männer immer Masken tragen würden und zwischen 20 und 25 Jahre alt seien. Sie sind also in der Zeit geboren, in der Putin an der Macht ist. Was ebenfalls immer gleich ist: Die Vergewaltigungen finden stets in der Öffentlichkeit statt, oft in einem Hinterhof oder sogar auf der Strasse – sodass es alle sehen können.
Die Russen haben Hunderttausende von Ukrainern in Fluchtkorridoren nach Russland gebracht. Warum? Was passiert mit ihnen da?
Bisher sind rund eine Million Ukrainer nach Russland deportiert worden. 182'000 davon sind Kinder. Sie werden in ganz Russland verteilt – vor allem in arme Regionen, um da zu helfen, die Wirtschaft in Schwung zu bringen.
Wie gehen die Russen bei der Verteilung vor?
Die Russen besuchen die Ukrainer in Filtrationslagern und stellen ihnen Fragen, etwa, was sie von der «russischen Mission» in der Ukraine hielten. Wenn ihnen die Antwort nicht passt, kontrollieren sie – wenn überhaupt vorhanden – die Dokumente und durchsuchen das Handy. Diese Leute werden in weit abgelegene Regionen gebracht, die andern können in der Nähe zur Ukraine bleiben.
Glauben Sie, dass sie jemals wieder zurückkehren können?
Ihr Schicksal kennen wir nicht. Sicher ist aber, dass viele Leute gar keine Dokumente haben, etwa Kinder, die während des Kriegs geboren wurden. Für diese Menschen wird es einmal schwierig zu beweisen, woher sie ursprünglich stammen, und in ihre Heimat zurückzukehren.
Benutzt Putin sie als Geiseln?
Er missbraucht sie für Propaganda. Er gibt an, dass sie aus der Ukraine fliehen mussten und er sie schützen müsse. Aber die Welt hat ihn durchschaut und weiss, dass es nicht stimmt.
Der Krieg ist noch in vollem Gange, und schon kehren die ersten Flüchtlinge wieder nach Hause in die Ukraine zurück. Warum?
Es sind schon rund 1,1 Millionen Ukrainer wieder zurückgekehrt, vor allem jene aus der Region Kiew. Sie gehen heim, weil ihnen Geld oder Essen fehlt oder sie auf der Flucht generell zu wenig Hilfe bekommen haben.
Die Schweiz kann als neutrales Land keine Waffen liefern. Was erwarten sie von ihr?
In der Ukraine sind 13 Millionen Menschen gefährdet. Sie müssen mit Essen und Medikamenten versorgt werden. Zudem ist es mir ein Anliegen, dass die Schweiz auf das in Genf beheimatete Internationale Komitee vom Roten Kreuz Einfluss nimmt. Ich glaube, dass es seine Aufgaben nicht zufriedenstellend ausübt.
Sie werfen dem IKRK vor, dass es mit der Eröffnung einer Zweigstelle in der südrussischen Region Rostow den Russen bei der Deportation helfe.
Genau. Hauptaufgabe des Roten Kreuzes müsste ja sein, dass es die Flüchtlinge registriert und die Rückkehr in die Ukraine unterstützt. Auch beklagen sich viele Flüchtlinge darüber, dass ihnen das Rote Kreuz nur Fladenbrot und Schnellaufkoch-Spaghetti gebe.
Wenn Sie Putin begegneten, was würden Sie ihm sagen?
Geh raus aus unserem Land, wir brauchen dich nicht! Und gegenüber der neutralen Schweiz sage ich, dass sich Putin um keine Neutralität kümmern wird.