Mit Bomben und schwerem Geschütz erobern die russischen Truppen Gebiete in der Ukraine. Als erste Stadt fiel Cherson in die Hände der Invasoren. Nun steht die Hafenstadt Mariupol kurz vor der gewaltsamen Machtübernahme.
Die grosse Herausforderung, die sich für die Russen stellt: Wie können sie die militärisch eroberten Gebiete anschliessend halten und verwalten?
Um Ruhe vor Ort zu garantieren, schickt der Kreml die Rosgwardia, die russische Nationalgarde. So ist es in Cherson, der schon Anfang März eroberten Stadt, geschehen.
Chersons Bürgermeister Igor Kolichajew (50) schrieb am 6. April auf der russischsprachigen Webseite Nastojaschie Vremia: «Sie gehen von Tür zu Tür und befragen jeden.» Ukrainische Polizisten, die passiven Widerstand leisteten, forderten sie auf, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Mit dem Auftrag, für «Ordnung» zu sorgen, spüren sie mit Namenslisten ukrainische Aktivisten auf, nehmen Verhaftungen vor und kontrollieren den Zugang zur Stadt.
Kolichajew berichtete, dass ihn zehn russische Offiziere besucht und Forderungen aufgestellt hätten. Er selber habe durchsetzen können, dass Panzer aus der Stadt verbannt wurden, humanitäre Hilfe zugelassen wurde und dass über dem Rathaus weiterhin die ukrainische Flagge wehe.
Bei Gefahr Schiesserlaubnis
Präsident Wladimir Putin (69) hat die Nationalgarde 2016 gegründet. Sie zählt 340’000 Mann und steht unter dem Kommando von General Viktor Solotow (68). Die Armee in der Armee hat ein sehr breites Aufgabenspektrum: Strafverfolgung, Kampf gegen Terrorismus und Extremismus, Waffenkontrolle, Bewachung kritischer Infrastrukturen, Durchführung von Ermittlungen.
Ausgestattet ist sie mit Maschinengewehren, Scharfschützengewehren, Schützenpanzern, Raketenwerfern, Drohnen und Kampfhelikoptern. Die Nationalgardisten haben die Kompetenz, bei Gefahr ohne Vorwarnung auf Menschenmengen zu schiessen.
Auf lokale Kräfte setzen
Um längerfristig die politische Ordnung wiederherzustellen, gibt es verschiedene Szenarios. Ulrich Schmid (56), Russland-Experte an der HSG in St. Gallen, sagt zu Blick: «Grundsätzlich versucht man – natürlich aus logistischen Gründen – auf bestehende Strukturen zurückzugreifen.» So suche man in erster Linie russlandfreundliche örtliche Kräfte, die mit den Russen kollaborierten.
Schmid: «Manchmal ist das der ehemalige Bürgermeister, manchmal gibt es auch Rochaden. In Melitopol etwa wurde der Bürgermeister verhaftet und durch eine ehemalige Mitarbeiterin ersetzt. An einem andern Ort trat die lokale Verwaltung in corpore zurück und ist nun in der humanitären Hilfe vor Ort aktiv.»
Spuren die lokalen Behörden nicht, setzt die Nationalgarde teilweise eine militärisch-polizeiliche Verwaltung ein.
Bald gibts eine «Abstimmung»
Die ukrainische Menschenrechtskommissarin Lyudmila Denisova (61) berichtet, dass die Russen in der Region Cherson zwischen dem 1. und 10. Mai eine Abstimmung durchführen wollten. Zurzeit würden «Stimmzettel» gedruckt.
Denisova bezeichnet die Abstimmung als «Pseudo-Referendum». Denn während der Abstimmung würden nicht nur die Zugänge zur Stadt gesperrt und die Kommunikationskanäle unterbrochen, nein, auch die Abstimmungsprotokolle würden schon im Voraus geschrieben und gedruckt.